Verleumdung
Fechterstellung, wie man sie sonst eigentlich nur von Brandopfern kennt.«
Endlich fand er das Handy und ging zur Tür. Linnea blieb mit dem Rücken zur Leiche stehen und winkte Thor noch einmal zu sich.
»Mir erscheint es eigentlich ganz einleuchtend, warum die Leiche so merkwürdig aussieht«, sagte sie. »Die Knochen wurden post mortem gebrochen. Jemand hat nach seinem Tod mit ihm gekämpft!«
32
E inen Tatort zu untersuchen ist wie seine Jungfräulichkeit zu verlieren«, hatte eine norwegische Kollegin auf einem Seminar gesagt. »Es ist nur einmal möglich.«
Sah man von der Anzüglichkeit der Aussage ab, hatte sie natürlich recht. Man bekam nur einmal die Chance, einen Tat- oder Fundort zu untersuchen. Denn ganz gleich, wie vorsichtig man vorging und wie viel man absperrte, der Vorgang als solcher führte doch immer dazu, dass man die Spuren verunreinigte oder verwischte. Nichtsdestotrotz steuerte Thor ein weiteres Mal die Refshaleinsel an, nachdem er das Rechtsmedizinische Institut verlassen hatte. Die Techniker hatten ihre Arbeit beendet, die Spuren gesammelt und dokumentiert. Die eigentliche Analyse und Bearbeitung würden allerdings noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Er besaß nicht viel Material, mit dem er weiterarbeiten konnte, bis die Techniker ihre Ergebnisse lieferten. Und die Hunde hatten keine verwendbaren Spuren vom Täter gefunden. Er wusste nicht genau, was er hier zu finden hoffte, aber es passte ihm gut, für eine Weile allein zu sein. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, wie glücklich er gewesen war, nach so langer Zeit wieder in Linneas Nähe zu sein.
Bei Tageslicht sah das Gelände auffallend anders aus. Zugänglicher, und zugleich noch einsamer als in der Dunkelheit, als er vor nur zwölf Stunden das erste Mal hierher gerufen worden war. Die Refshaleinsel war ein merkwürdiger Ort. Bis vor zehn Jahren hatte das Gelände zu B&W gehört, doch das Werftensterben hatte eine große, offene Wunde am Rand von Kopenhagens Hafen daraus gemacht. Im Gegensatz zu den mondäneren Grundstücken auf Holmen mit ihren Werbeagenturen und Kunstschulen lag es zu weit außerhalb, um zahlungsstarke Investoren anzulocken. Und die Zeit jener Kleinindustrie, die sich früher in solchen alten Gebäuden angesiedelt hätte, war ebenfalls vorbei. Jetzt gab es hier nur noch Ödnis, Becken mit rostzerfressenen Booten und Gebäude, die so massiv abgeschirmt und eingezäunt waren, dass man sich gar nicht erst vorstellen mochte, was hinter ihren Mauern vorging. Warum man genau hier eine Hinrichtung stattfinden ließ, war unschwer nachzuvollziehen.
Thor versuchte zu erkennen, ob irgendwo verlassene Autos standen, die aussahen, als hätten sie keinen Besitzer mehr. Denn irgendwie mussten Täter und Opfer ja hierhergekommen sein. Sie hatten alle Taxiunternehmen überprüft, doch niemand hatte in der Nacht zum Samstag zu diesem Zeitpunkt in der Gegend Fahrten registriert. Wie also waren sie hierhergelangt? Waren sie möglicherweise sogar zusammen gekommen, und nur einer von ihnen hatte den Ort wieder verlassen? Andererseits gab es auf dem Refshalevej viele Möglichkeiten, ein Auto zu verstecken – wenn nicht sogar unmittelbar zwischen den vielen Autowracks, die auf den Grundstücken ringsherum vor sich hin rosteten. In diesem Fall würden sie den Wagen früher oder später finden.
Thor parkte vor der kleinen Bootswerft und betrat das Gelände. Es war mit Rücksicht auf die weiteren Ermittlungen abgesperrt. Die Tür im Drahtzaun stand jedoch offen, so dass er das Absperrband zur Seite ziehen und hineingehen konnte. Die Sonne brannte schon seit dem Morgen unerbittlich. Hitze schlug ihm entgegen, als er auf den kleinen Betonplatz zwischen den drei Gebäuden zuging, der mit Planken und Stacheldraht umzäunt war. Als er zwischen dem Toilettengebäude zur Linken und der Bootswerft mit der angebauten Werkstatt zur Rechten stand und gegen die Sonne blinzelte, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass hier vor nicht mal eineinhalb Tagen ein Mord geschehen war und es hier noch am Morgen vor Ermittlern der Mordkommission, Hundestaffeln und Kriminaltechnikern nur so gewimmelt hatte. Ihm fiel auf, wie still es war. Dabei war er lediglich zwanzig Minuten von der Innenstadt Kopenhagens in ein früheres Industriegebiet gefahren.
Er ging zu dem Toilettengebäude hinüber und zögerte einen Augenblick, ehe er eintrat. Das Licht funktionierte nicht mehr, so dass der Korridor im Halbdunkel lag. Er konnte noch die Blutspuren
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