Verleumdung
sicher. Dann trat er die Tür mit voller Kraft weit auf und warf sich auf die Seite.
Jemand schlug nach ihm, aber er konnte sich rechtzeitig ducken. Er ging in die Knie, konnte jedoch Kraft sammeln, um nach dem anderen zu treten, als dieser erneut zum Schlag ausholen wollte.
Jetzt schnellte Thor vor und sah, dass sein Gegner ein Mann Mitte fünfzig war, der einen schmutzigen Overall trug. Er wollte gerade etwas aus seiner Tasche ziehen, als Thor blitzschnell nach einem Hammer von der Arbeitsbank neben sich griff.
Der Mann schrie lauthals, als ihn der Hammer mitten auf den Handrücken traf, und ließ den Schraubenschlüssel fallen, nach dem er in seiner Tasche gesucht hatte. Schon in der nächsten Sekunde hatte Thor den Mann in die Knie gezwungen und gegen die Wand gepresst.
»Wir beide haben wohl ein Wörtchen miteinander zu reden!«, sagte er.
*
Linnea ging im Fælledpark spazieren, um etwas frische Luft zu schnappen. Am Institut herrschte eine hektische Stimmung, nachdem ein Wachmann überfallen worden war. Vermutlich von demselben Eindringling, dem kurz zuvor auch sie und Thor begegnet waren.
Ihre Gedanken wanderten zu den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Tage zurück. Nicht zuletzt dachte sie an Lex, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte und der sie sich plötzlich wieder so nah fühlte. Ihre alte Vertrautheit war sofort wieder da gewesen, gerade so, als hätten sie das Gymnasium erst kürzlich verlassen. Natürlich war in der Zwischenzeit viel passiert, von dem ihr Lex so atemlos berichtet hatte, als müssten sie innerhalb eines Vormittages alles Versäumte aufholen. Als Linnea in die USA gereist war, hatte Lex ein weiteres Jahr damit verbracht, Geld zu verdienen, um auf eine Kunstschule in London zu gehen. Dort hatte sie ein paar Jahre gelebt, bis sie nach Hause musste, um ihre Mutter zu pflegen. Diese hatte infolge der Scheidung und der Verurteilung ihres Mannes wegen Steuerhinterziehung versucht, Selbstmord zu begehen.
Das alles klang ziemlich abenteuerlich, doch Linnea hatte den Eindruck, dass Lex durch ihre Erfahrungen reifer geworden war. Damals, als sie zusammen durch dick und dünn gegangen waren, war Lex jedenfalls oft eher nachlässig mit der Wahrheit gewesen. Es ging dabei zwar immer nur um Kleinigkeiten, wie etwa, seit wann sie irgendwen kannte, ob die Türsteher sie am Wochenende ins Jazz House Montmartre gelassen hatten oder nicht, oder wie viele von Kie´slowskis Filmen sie tatsächlich gesehen hatte. Es waren lediglich kleine Unwahrheiten, die sich leicht mit einem schlechten Gedächtnis verwechseln ließen und die in Wirklichkeit nur Linnea bemerkte, weil sie Lex fast täglich in Aktion erlebte. Einmal hatte Linnea ihr deutlich erklärt, dass sie nicht in all ihre Geschichten hineingezogen werden wollte. Über die kleinen Lügen jedoch hatte sie sich nie groß aufregen können. Sie entschuldigte es damit, dass Lex in ihrer Kindheit so sehr vernachlässigt worden war. Sie selbst hatte sich immer auf die Freundin verlassen können.
Die Lex, die sie heute wiedergetroffen hatte, war noch dieselbe Person, und dennoch wirkte sie verändert. Sie war reifer geworden, ernster. Und dann musste ausgerechnet ihr so etwas Schreckliches, Tragisches widerfahren. Der Gedanke war kaum zu ertragen.
33
D ie Knochensammlung zählte über zweitausend Skelette. Linnea staunte über den Umfang. Es war eine veritable Biobank mit Skelettgewebe, die fast achttausend Jahre zurückging. Die Exponate reichten von den ältesten archäologischen Funden in Dänemark über die ausgestorbenen Nordmänner auf Grönland bis ins 19. Jahrhundert hinein. Diese Sammlung musste geradezu einzigartig auf der Welt sein. Und Linnea war dankbar dafür, dass sie später, wenn im Rechtsmedizinischen Institut keine dringenden Aufgaben mehr anfielen, an ihrem Ausbau mithelfen durfte. Denn dafür hatte die Abteilung für Forensische Anthropologie gerade Fördermittel erhalten. Die ganze Sammlung sollte mit elektronischen Strichcodes versehen und in einer Datenbank archiviert werden, um der internationalen Forschung zu dienen. Diese Aufgabe war für Linnea nicht nur ein willkommener Zeitvertreib bei einer ruhigen Sonntagsschicht, sondern zugleich eine äußerst erfüllende Tätigkeit. Denn im Gegensatz zu der eher allgemeinen pathologischen Arbeit, die eine Vertretungsstelle am Rechtsmedizinischen Institut bot, waren hier tatsächlich ihre fachlichen Qualifikationen gefragt.
Die Sammlung befand sich
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