Verleumdung
weil es im Garten am Abend doch noch zu kühl war, hatte Lex Linneas Hände in ihre genommen und begann zu erzählen.
»Sie wollen mir nichts sagen. Ich frage immer wieder, was genau passiert ist. Wer es getan hat. Aber ich spüre, dass sie mich nur hinhalten. Und sie wollen nicht mal sagen, wann sie ihn freigeben, damit ich mich um die Beerdigung kümmern kann. Dürfen die das denn überhaupt?«
Lex blickte Linnea mit dunklen ernsten Augen an. Sie rieb sich das Muttermal unter dem linken Auge, und Linnea fiel ein, dass sie diese Angewohnheit immer schon gehabt hatte, wenn sie nervös war oder unter Druck stand.
»Ich fürchte, ja. Jedenfalls so lange, bis die Sache endgültig aufgeklärt ist. Jonas’ Tod wird als Mordfall eingestuft.«
Linnea schwieg. Jetzt war sie mit dem herausgerückt, wovor es ihr so gegraust hatte, und Lex starrte sie verständnislos an.
»In solchen Fällen gehen sie normalerweise ziemlich sparsam mit Informationen um, selbst gegenüber den Angehörigen. Eigentlich verletze ich meine Schweigepflicht, wenn ich dir erzähle, was ich weiß. Diese Dinge sind vertraulich.«
»Aber Mord? Ich verstehe das nicht richtig.«
Linnea nahm sie behutsam in den Arm.
»Ist dir vielleicht etwas eingefallen?«, fragte sie dann. »Gab es jemanden, der einen Grund hatte, ihm den Tod zu wünschen?«
Lex richtete sich blitzschnell auf, und ihre Augen funkelten böse, als sie Linneas Andeutung widersprach. Dann sank sie wieder in sich zusammen und lehnte sich bei Linnea an.
»Haben sie etwas über mich gesagt? Wir hatten uns ja gestritten, bevor er von zu Hause losfuhr. Vielleicht glauben sie, ich hätte was mit der Sache zu tun?«
»Nein, natürlich tun sie das nicht.«
Linnea sah sie an und zögerte einen Moment.
»Aber sie haben etwas von einem Skandal im Irak erwähnt. Irgendeine alte Sache mit Foltervorwürfen.«
Diese Information war offensichtlich zu viel für Lex, denn im selben Moment begann sie lauthals aufzuschluchzen. Sie sah zu Linnea auf und fing bitterlich an zu weinen.
»Sie können diese Sache doch nicht wieder aufwühlen. Er wurde doch freigesprochen! Und genau daran ist er zerbrochen. Seit er aus dem Irak zurückkam, ging es ihm nie wieder richtig gut. Weißt du, wie viele Nächte er nicht geschlafen hat deswegen? Und was hat er zum Dank bekommen? Eine Anklage! Du musst ihnen sagen, dass es nicht stimmt. Versprich mir das!«
Linnea tat ihr Bestes, um die Freundin zu trösten. Doch Lex hörte nicht auf zu weinen und zwischendurch schluchzend zu fragen, was die Polizei Linnea noch alles erzählt hatte. Sie wollte alles darüber wissen, wo Jonas gefunden worden und was mit ihm geschehen war. Sie bestand darauf, so viele Details wie möglich aus den Ermittlungen zu erfahren. Linnea erzählte so viel, wie sie für verantwortbar hielt. Denn eigentlich durfte sie nicht das Mindeste weitergeben, auch nicht an eine Angehörige. In diesem Augenblick jedoch entschied sie, dass die Solidarität mit der Freundin schwerer wog. Zunächst hatte sie Lex so viel wie möglich ersparen wollen, aber diese erkundigte sich immer wieder nach Einzelheiten und schien sich erst zu beruhigen, als sie das Gefühl hatte, alles zu wissen, was auch Linnea über den Fall wusste. In der Zwischenzeit hatten sie die Flasche Wein geleert, und Lex fragte, ob sie eine weitere Flasche öffnen solle. Linnea kam kurz in Versuchung, lehnte dann aber doch ab.
»Ich rufe mir lieber ein Taxi. Und du siehst auch aus, als würdest du gleich vor Müdigkeit umfallen.«
Sie nahm Lex’ Hand in ihre.
»Es sei denn, du hättest gern, dass ich hier übernachte. Das wäre kein Problem.«
»Das ist lieb von dir, das musst du nicht. Aber es war schön, dass du heute Abend hier warst.«
Als sie auf das Taxi warteten, wurden sie plötzlich beide schweigsam, so als bereuten sie die neugewonnene Intimität. Vielleicht war es aber auch nur die Erschöpfung nach all den gefühlsgeladenen Momenten, die sie gerade gemeinsam durchlebt hatten.
Als Linnea im Flur ihre Jacke nahm, sah sie den Gegenstand, der unter dem Rokokospiegel lehnte. Sie beugte sich vor, um ihn zu betrachten.
»Die ist schön, oder?«, meinte Lex.
»Wo hast du die denn her?«, wollte Linnea wissen und blickte Lex verwundert an.
Es war eine Tontafel von der gleichen Art, wie sie in Linneas Büro lag. Lex nahm sie und hielt sie hoch. Die Tafel war auf einen kleinen Sockel montiert, damit sie aufrecht stehen konnte. Sie war etwas größer als Linneas Exemplar. Die
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