Verleumdung
damit, dass sie trotz allem nicht die reguläre rechtsmedizinische Untersuchung durchgeführt hatte.
Linnea wandte sich dem Computer zu, der neben dem Waschbecken an der Wand stand, und studierte zunächst das etwas abstraktere und dadurch weniger intime CT-Scanning, das die Kollegen am Tag zuvor gemacht hatten. Diese Computertomographie war eine Art Röntgenbild, die einen Querschnitt der Leiche zeigte. Man führte sie vor der Obduktion der Leiche durch. Sie offenbarte eine Menge Details, die sich mit dem bloßen Auge nicht erkennen ließen. Beispielsweise hatte man anfangs angenommen, Neergaard sei von einem Nackenschuss getroffen worden. Bei einem aufgesetzten Schuss wären allerdings deutliche Schmauchspuren auf der Haut zu sehen gewesen. Und selbst bei einer größeren Schussdistanz wären die Spuren zwar nicht vorhanden, aber die Austrittsöffnung hätte größer sein müssen als das Einschussloch und außerdem an den Rändern aufgerissen. Erst nach dem CT und der anschließenden Obduktion hatte der genaue Hergang festgestanden. Es wurde deutlich, dass es sich in Wirklichkeit um einen aufgesetzten Kopfschuss handelte, bei dem die Kugel oben in den Schädel eingetreten war und den Körper durch den Nacken wieder verlassen hatte. Wie Linnea bereits wusste, war es keine Seltenheit, dass Einschusslöcher aufgrund der Todesstarre nur äußerst schwierig zu entdecken waren. Wenn man starb, erstarrten die Muskeln, und die vielen verschiedenen Schichten, die die Oberfläche des Körpers ausmachen, verschoben sich untereinander. Dadurch konnte das Loch eines Projektils schon nach wenigen Stunden sehr klein und oberflächlich aussehen. Zudem war die Haut so elastisch, dass ein Einschussloch wesentlich kleiner erscheinen konnte als das eingeschlagene Projektil.
»Wie wäre es mit einem Eistee?«, fragte Thor, der den Kopf zur Tür hereingestreckt hatte.
»Großartig, gern!«
Linnea nahm die Gelegenheit zu einer Pause dankend an. Sie streifte die Gummihandschuhe ab und die Maske vom Gesicht und trat auf den Flur hinaus.
»Na, hast du etwas Neues entdeckt?«
»Das kann man wohl sagen.«
*
An seinem Mittagessen war an sich nichts auszusetzen gewesen: zur Vorspeise Austern, Fines de Claire, und anschließend ein zartes Cochon-Duroc-Filet. Allerdings war der teuerste Grand Cru auf der Weinkarte ein Chambertain Domaine Leroy von 2001. Und wenn dies nicht schon die Provinzialität des Restaurants enthüllte, dann tat es spätestens der überzogene Preis von 12.000 Kronen. Für diese Summe hätte es mindestens ein 2002er sein müssen. Kevin Love freute sich darauf, dass er Kopenhagen spätestens in ein paar Tagen den Rücken kehren konnte.
Nachdem er das Le Sommelier in der Bredgade verlassen hatte, machte er sich auf den Weg ins Auktionshaus Ellemose. Sein Kontakt in Kopenhagen hatte bereits einen Teil der Vorarbeit erledigt und mehr als angedeutet, dass Love in den letzten Jahren um ziemlich viel Geld betrogen worden war. Zwar hatte er die ganze Zeit seine zwanzig Prozent Beteiligung an den Einnahmen von den großen Verkäufen in Skandinavien erhalten. Aber jetzt, da er sich entschieden hatte, das Geschäft abzuwickeln, hatte er eine abschließende Revision durchgeführt und war dabei zu äußerst überraschenden Ergebnissen gekommen. Zum einen waren bei Sotheby’s in London ziemlich viele antike Kunstschätze verkauft worden. Außerdem gingen Gerüchte um, dass der Verkäufer Däne sei. Love selbst hatte einen weiteren Teil der entsprechenden Ware im Katalog vom Auktionshaus Ellemose in Dänemark entdeckt. Vermutlich hoffte man, dass er es hier nicht bemerken würde. Die Sachen mussten aus ein und derselben Quelle stammen, was bedeutete, dass es eine Menge Verkäufe gab, über die er nie informiert worden war. Und an deren Ertrag er folglich auch nie beteiligt worden war. Er spürte eine zunehmende Genugtuung darüber, wie er seine Zusammenarbeit mit Neergaard beendet hatte.
Kevin Love betrat das Auktionshaus und sah sich routinemäßig im Raum um. Hinter der Theke stand ein junges Mädchen mit blondiertem Haar an einem Computer bereit, um eventuellen Bietern behilflich zu sein. Dieses junge Ding zu manipulieren wäre fast zu einfach. Mangelnde Herausforderungen bereiteten ihm keine Freude. Andererseits hatte er natürlich auch Wichtigeres zu tun, als hier seine Zeit zu vergeuden. Man hatte ihn übers Ohr gehauen, daran bestand kein Zweifel. Doch die Frage war, wie sehr Neergaard daran beteiligt gewesen war und ob
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