Verleumdung
Keilschrift und die Zeichnung einer Gottheit oder Person auf der anderen Seite waren jedoch viel deutlicher darauf zu erkennen.
»Die hat Jonas aus dem Irak mitgebracht.«
Plötzlich sah sie aus, als würde sie gleich wieder zu weinen anfangen.
»Sie haben alle so was mit nach Hause gebracht. Alle kauften dieselben Souvenirs. Ich glaube, sie ist wahnsinnig alt.«
In dem Moment kam das Taxi, und Lex stellte die Tontafel ab, damit sie sich zum Abschied umarmen konnten. Linnea ging zu dem Wagen hinaus und stellte fest, dass es doch spät geworden war. Sie durfte auf keinen Fall vergessen, Thor von dieser Tafel zu erzählen. Vielleicht half ihm die Information weiter, dass es sich anscheinend um ein typisches Souvenir für Soldaten handelte, die im Irak gewesen waren.
Montag, 12. Juli
37
E s war das erste Mal, dass Linnea vom Anblick einer Leiche übel wurde. Nicht mal im Studium war ihr das passiert. Von Anfang an war sie fasziniert gewesen von der Wissenschaft, die sie sich ausgesucht hatte.
Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie gemeinsam mit ihrer Seminargruppe bei der ersten Identifizierung im Labor zusehen durfte. Im Studium wurde in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Santa Clara County Medical Examiner’s Office ein Programm angeboten, das angewandte humane Osteologie mit konkreten Rechtsfällen und Ermittlungen verband. Dabei handelte es sich vor allem um Fälle nicht identifizierter Leichen. Die Regale im Labor waren voller Pappkartons, die Skelette von Menschen enthielten, die niemand vermisste und deren Identität noch immer unbekannt war. Männer in Schutzanzügen waren damit beschäftigt, unter einer Dunstabzugshaube das Fleisch von den Knochen zu entfernen, und in einer Ecke stand eine Kaffeemaschine und blubberte vor sich hin. Linnea hatte sofort das Gefühl gehabt, endlich einen Ort gefunden zu haben, an dem sie sich heimisch fühlte. Selbst als sie gebeten wurde, an einem Tisch zu helfen, an dem man gerade die Leiche einer Frau untersuchte, die mehrere Tage tot in ihrer Wohnung gelegen hatte, war ihr nicht schlecht geworden. Dabei hatte es so ausgesehen, als bewege sich der Mund der Frau. Als würde sie gerade etwas essen oder etwas sagen wollen. Einer der Laborangestellten hatte über Linnea gelacht, als sie sich näher zur Toten herabbeugt und entdeckt hatte, dass der Grund dafür Maden waren. Es waren so viele, dass sie im Mund um einen Platz kämpften, wodurch sich die Zunge der Toten bewegte.
Aber das hier war trotzdem etwas anderes.
»Kannst du sie nicht davon überzeugen, ihn freizugeben?«, war das Letzte, was Lex am Abend zuvor gesagt hatte. »Damit er beerdigt werden kann. Können sie denn nicht verstehen, dass ich ihn gern zurückhätte!«
Doch als Linnea die Leiche des Mannes ihrer Freundin nun erneut untersuchte, wusste sie, dass es nur einem überdurchschnittlich versierten Bestatter gelingen würde, die Leiche wieder halbwegs präsentabel aussehen zu lassen. Wie üblich war der Körper zu Beginn der Obduktion mit einem langen Schnitt, der vom Kinn bis zum Becken reichte, geöffnet worden. Das war die Aufgabe des Obduktionsgehilfen, der die Leiche anschließend mit groben Stichen wieder zusammengenäht hatte, nachdem man die Organe herausgenommen und obduziert und anschließend wieder in der Leiche platziert hatte. Aufgrund der Schusswunde am Kopf war auch die Kopfhaut durch einen Schnitt von einem Ohr zum anderen teilweise abgezogen worden. Die Blutungen auf und unter der Kopfhaut waren als Folge von stumpfer Gewalt häufig zu finden. Ebenso wie die Frakturlinien und Brüche, die durch die Einschuss- und Austrittsöffnungen verursacht worden waren und zum Glück relativ einfach kaschiert werden konnten.
Linnea hatte unzählige Leichen in verschiedenen Verwesungsstadien zu Gesicht bekommen. Jonas Holm Neergaards Leiche hatte sie bereits am Vortag kurz gesehen. Aber dass sie die Leiche heute einer dezidierten Untersuchung unterziehen musste, war etwas ganz anderes. Und obendrein war der Fall persönlich geworden. Erst gestern Abend noch hatte Lex ihr ein Foto nach dem anderen von diesem Mann gezeigt und ihr von der schönen Beziehung und ihrer gemeinsamen Geschichte erzählt. Er war nicht länger nur ein zufälliges Opfer oder ein Studienobjekt, von dem sie sich distanzieren konnte. Nun war sie auch »befangen«, wie es im Autorisationsgesetz hieß, und hatte daher kein Recht mehr, einen Untersuchungsbericht zu erstellen. Sie entschuldigte es vor sich selbst
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