Verlieb dich nie in einen Vargas
noch nicht so alt.«
»Fünfzig?«
»Zweiundfünfzig«, erwiderte ich. »Aber rückblickend erinnerten wir uns, dass er schon Jahre zuvor ein paar seltsame Sachen gemacht hatte. Dinge, die wir für so was wie eine Midlife-Crisis gehalten hatten. Einmal steckte er aus völlig heiterem Himmel einen Teil ihrer Ersparnisse, die für die Rente gedacht waren, in eine Timeshare-Anlage in der Karibik, und er konnte nicht nachvollziehen, warum Mom so aufgebracht war, dass er es nicht mit ihr besprochen hatte. Aber später in dem Monat zerbrach er ein dummes, stinknormales Weinglas und weinte, als hätte er ein Familienerbstück auf dem Gewissen oder so. Es war einfach nicht nachvollziehbar.«
»Wie habt ihr denn rausgefunden, dass er krank war?«, fragte Emilio.
»Eines Abends rief er mich aus dem Büro an, total panisch.« Ich ließ Emilios Hand los und wir setzten uns ins Gras. »Er brabbelte und brabbelte, und ich fragte: ›Papi, bist du betrunken?‹ Er stotterte. Endlich gab er so was wie ein Husten von sich, und dann sagte er irre schnell: ›Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause komme.‹«
»Im Ernst?«
Ich rupfte ein Büschel Gras aus, ließ die Halme auf meine nackten Beine rieseln. »Er hatte zwanzig Minuten lang im Auto auf dem Parkplatz gesessen. Ich dachte, er wollte mich verkohlen, aber dann wurde er total ernst. Wütend. Und selbst dabei klang er so … völlig verstört, nehme ich an.«
»Wie ging es weiter?«
»Ich telefonierte die ganze Zeit mit ihm, und mein Nachbar fuhr mich zu ihm – ich dachte mir etwas aus, sagte ihm, dass Papi sich eine Grippe eingefangen hätte, und er ließ mich auf dem Parkplatz raus. Papi war mit dem Pick-up unterwegs. Das war der Tag, an dem ich gelernt habe, Gangschaltung zu fahren. Crashkurs.«
Ich rupfte noch mehr Gras aus, ließ es wieder auf meine Beine rieseln. »Als wir nach Hause kamen, sah er mich nicht an. Alles, was er sagte, war: ›Jude. Zu niemandem ein Wort.‹ Und ich wusste, dass es ihm ernst war, weil er mich nie Jude nennt. Immer Juju oder querida .
Ich hatte Angst und hielt den Mund, aber am nächsten Tag passierte es wieder, und ich wusste, dass etwas Gravierendes nicht stimmte. Mom ging mit ihm zu verschiedenen Ärzten, monatelang hatten sie einen Termin nach dem anderen. Sie gaben ihm Antidepressiva und rieten ihm, kürzerzutreten.« Mein Magen krampfte sich bei der Erinnerung an die Hilflosigkeit, das Fehlen von Antworten zusammen. »Die Zeit, die wir im Dunkeln tappten, kam uns wie eine Ewigkeit vor. Endlich empfahlen sie ihm einen Demenzspezialisten. Sie machten sämtliche Tests und Scans, um andere Ursachen auszuschließen. Früh einsetzender Alzheimer, sagten sie schließlich. Ich hatte bis dahin noch nie davon gehört.«
»Wie behandeln sie es?«
»Mit Medikamenten, einer gesunden Ernährung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, sie versuchen, den Prozess zu verlangsamen, aber es gibt keine Heilung. Mari meint, er müsse Denksportaufgaben lösen und sich ausreichend bewegen. Wer weiß. Sie können einen Dreck vorhersagen. Es ist wie ein Ratespiel.«
»Machst du deshalb ständig Fotos? Als Erinnerungsstütze oder so?«
»Ja. Ich versuche echt nicht, deine Modelkarriere anzukurbeln, egal, was du glaubst.«
»Dafür brauche ich dich nicht.« Emilio stupste mein Knie mit seinem an. »Aber … an dem Motorrad zu schrauben ist gut für ihn, oder? Es hält seinen Verstand auf Trab?«
»Das ist das Seltsame daran. Die Harley … manchmal kann er sich nicht daran erinnern, was er zum Frühstück gegessen hat oder wo seine Hemden sind oder dass Sommer ist. Aber frag ihn irgendwas über das Motorrad, und es ist, als sei er zurück in Argentinien mit seiner Gang. Er erinnert sich an jedes Detail aus seinem alten Leben. Es ist krank.«
»Nah, es ist überhaupt nicht krank.« Emilio fegte etwas Gras von meinem Knie. »Dein Paps ist verdammt cool.«
»Im Ernst?«
»Jude. Er war in einer Motorradgang. Er ist durch Südamerika getourt. Er hat eine 1961er Panhead, um Himmels willen. Der Typ ist ’ne lebende Legende.« Emilio lachte, und als ich seine Miene sah, die so offen und aufrichtig war und kein bisschen anders als Momente zuvor, ehe ich ihm das Familiengeheimnis anvertraut hatte, wusste ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihm davon zu erzählen. Er musste gewusst haben, dass Papi etwas in der Art hatte – Alzheimer, Demenz, Erinnerungslücken. Aber es fühlte sich bedeutsam an, es laut ausgesprochen zu haben, ihm
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