Verlieb dich nie nach Mitternacht
Dämmerlicht ihres Zimmers stand Agnes am Fenster und blickte, ohne zu sehen, in die Richtung, wo der Friedhof lag.
Maribel bekam ein Kind. Von Friedrich. Von wem sonst? Sie hatte die beiden zusammen erlebt. In verfänglicher Position. Schuldbewusst.
»Für Männer ist die Ehe eine Notwendigkeit. Den Spaß holen sie sich woanders.« Die Worte ihrer Mutter, am Vortag der Eheschließung gesprochen, gingen Agnes durch den Kopf.
Damals hatte Agnes nur gelacht. »Eines Tages wird er mich lieben wie ich ihn.«
Eine Illusion.
Ihre Bitterkeit schnürte ihr die Kehle zu. Sie griff sich an den Hals, weil die Luft ihr knapp wurde.
Sie begann zu husten.
*
Friedrich schärfte seinen Federkiel, als er den Kopf hob und lauschte. Ein ungewohntes Geräusch schreckte ihn auf.
Kurze, abgehackte Laute.
Wie das heisere Bellen eines Hundes.
Doch wenn er genau überlegte, hatte er nie zuvor von einem der Tiere ein solch Angst einflößendes Geräusch gehört.
»Hat Ihre Frau gelegentlich Husten?« Die Worte des Militärarztes hallten plötzlich wie eine grausige Verheißung in Friedrichs Kopf wider. Aufgeschreckt warf er den Federkiel auf den Schreibtisch. Hinter ihm polterte der Stuhl zu Boden. Er stürmte zum Zimmer seiner Frau.
»Agnes!«
In dunkler Vorahnung riss er die Tür auf.
Seine Frau starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Blut quoll aus ihrem Mund. Helles, grellrotes Blut. Es lief ihr über das Kinn, tropfte auf ihr Kleid, das schon dunkel vor Nässe war.
»Hilfe! So helft mir doch!« Friedrichs Schrei gellte durch das Haus. Er sprang herbei, um Agnes aufzufangen, die langsam auf die Knie sank.
*
Selig kuschelte sich Maribel an die breite Brust des Mannes, den sie liebte. Es gab keinen anderen Ort, an dem sie sein wollte. Andrej und Boris waren eins. Ihr Glück war vollkommen.
Andrej, der Boris des neunzehnten Jahrhunderts, vergrub seine Nase in ihren Locken. Sogar der leichte Duft nach Misthaufen, der in ihren Haaren hing, erschien ihm plötzlich wie ein Wohlgeruch aus Tausendundeiner Nacht. »Hab ich dir zu viel versprochen?«
»Viel zu wenig, mein Schatz.« Träge kraulte sie ihm die Brusthaare. So viele Fragen lagen ihr auf der Zunge. Warum hatte er sich ihr nicht sofort zu erkennen gegeben, zum Beispiel? Weshalb hatte sie in der Heiligen Nacht seine Stimme gehört, obwohl er zu dem Zeitpunkt noch Hunderte von Kilometern von ihr entfernt gegen französische Truppen kämpfte? Weitere Fragen würden ihr einfallen, wenn sie intensiver darüber nachdachte, doch im Augenblick genügte es ihr, ihm nah zu sein. »Wie soll ich dich nennen? Boris oder Andrej?«
»Namen sind …«
»Ich weiß: Schall und Rauch.« Sie kicherte vergnügt.
»Es würde auf andere seltsam wirken, wenn du mich plötzlich mit Boris ansprichst, meinst du nicht?«
»Also bleib ich bei Andrej.« Zärtlich hauchte sie ihm einen Kuss in seine Achselhöhle.
Der gellende Schrei eines Mannes, der vom Herrenhaus zu ihnen herüberdrang, ließ sie beide vor Schreck in die Höhe schnellen.
»Das war Friedrich. Es muss etwas passiert sein.« Maribel spürte, wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen griff, als sie an den goldfarbenen Brieföffner dachte, mit dem er sie bedroht hatte. Was war passiert, nachdem sie geflohen war? Hatte er die Waffe gegen sich selbst gerichtet? Oder gegen einen Dritten?
Obwohl sie sich selbst dafür schalt, fühlte sie sich auf eine Art auch verantwortlich. Zu sehr war sie bereits in die Geschehnisse auf dem Isselshof verstrickt. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und suchte in Windeseile ihre Kleidungsstücke zusammen. Neben ihr schlüpfte Andrej in seine Hose.
»Wenn wir uns beeilen, sind wir über die Zeitschwelle, bevor die Aufregung sich gelegt hat«, sagte er.
»Aber ich kann jetzt nicht fort. Vielleicht braucht man drüben meine Hilfe.«
»Warst du es nicht, die unbedingt zurück nach Hause wollte? Und ich sage dir: entweder jetzt oder nie.« Andrej sprach mit fester Stimme. Dabei vermied er es, sie anzusehen. Eifersucht auf Friedrich plagte ihn – und das scheinbar aus dem Nichts auftauchende Gefühl, eine ähnliche Situation schon einmal erlebt zu haben. Ihm war, als wollte sein Unterbewusstsein ihn vor einer Gefahr warnen, die sein wiedergefundenes Glück mit Maribel bedrohte.
Einen Strumpf hatte sie bereits bis zur Hälfte hochgekrempelt. Nun hielt Maribel inne. »Ich bin so froh, dich endlich wiedergefunden zu haben, Boris. Ich möchte dich nie mehr verlieren. Nie mehr.«
Mit wenigen schnellen
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