Verlieb dich nie nach Mitternacht
Schritten war Andrej bei ihr, um sie in seine Arme zu ziehen. »Ach, Maribel! Ich wünschte, unser Leben wäre so einfach.«
»Was spricht dagegen, zusammenzubleiben?«
Er lachte rau. »Zum Beispiel, dass du nicht meine Mätresse sein willst.«
Maribel musste über sich selbst lachen. »Im einundzwanzigsten Jahrhundert habe ich damit keine Probleme.« Sie stutzte.
Andrej bemerkte, wie sie sich in seinen Armen versteifte. »Die Polizei ist hinter mir her. Ich kann nicht mit dir zurückkommen«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage.
»Aber du könntest alles aufklären. Oder stimmt es, was man dir vorwirft? Vertreibst du Hehlerware im Internet?«
»Nein!« Verärgert schob er sie von sich. »Wenn du das von mir glaubst, ist es wohl besser, wir gehen getrennte Wege.«
»Ist das alles, was du kannst? Fliehen? Vor der Verantwortung – und vor mir?« Impulsiv stach sie ihm mit dem Zeigefinger in die Brust.
Ihre Blicke verhakten sich. Stumm rangen sie miteinander. Gleichzeitig begannen sie zu sprechen, entschuldigten sich verlegen, begannen erneut.
»Dann ist es entschieden. Ich bleibe bei dir«, sagte Maribel.
»Als meine Liebste?« Er legte den Finger unter ihr Kinn, als er sie eindringlich ansah. »Ich habe es mir so sehr gewünscht.« Er lächelte traurig. »Aber was machst du, wenn ich in der nächsten Schlacht falle? Du wärst allein. Weit ab von dem Ort, an den du gehörst.«
»Du könntest den Dienst quittieren und dich irgendwo mit mir niederlassen.«
»Mitten im Krieg?«
Er brauchte es nicht weiter auszuführen. Maribel begriff auch so, dass Andrejs Vorgesetzte ihn so kurz vor dem zum Greifen nahen Sieg über Napoleon nicht gehen lassen würden.
Die Stimme versagte ihr fast den Dienst. »Bist du sicher, dass du mich über die Zeitschwelle bringen kannst?«
»Ja.« Er log.
»Aber ich kann nicht reiten.« Maribel rettete sich in Nebensächlichkeiten.
»Mach dir keine Sorgen, mein Liebling. Solange ich bei dir bin, schaffst du auch das.«
Vielleicht – aber wie sollte sie jemals wieder ohne ihn leben können?
*
Minuten später liefen sie Seite an Seite hinüber zu den Halterungen, wo die zähen kleinen Donpferde sich in der Kälte der Nacht aneinanderschmiegten.
Andrej grüßte den wachhabenden Soldaten.
»Ich begleite Maribel in die Stadt. Bis zum Abmarsch bin ich zurück.«
Branntweinselig nahm es der Soldat mit seiner Meldung nicht mehr allzu genau. Anzüglich grinste er unter seiner Pelzkappe hervor, deren Ohrentaschen er zum Schutz gegen die nächtliche Kälte tief ins Gesicht gezogen hatte. Lebhaft malte er sich aus, was Andrej mit der Kleinen an diesem Abend noch vorhatte.
Normalerweise wäre ein kräftiges Donnerwetter für ihn fällig gewesen. Doch Andrej sah großzügig über das Verhalten des Mannes hinweg. Er fasste das Pferd mit einer Hand an der Mähne und schwang sich hinauf. Mit einem ermutigenden Lächeln reichte er Maribel die Hand, um ihr beim Aufsteigen zu helfen. Da löste sich aus dem Dunkel des Schweinestalls ein kleiner Schatten.
»Maribel!« Bens verzweifelte Stimme gellte zu ihnen herüber. Erschrocken wandte Maribel den Kopf. Sie hatte den Jungen vollkommen vergessen. Wie lange wartete er bereits vergeblich auf sie?
»Ein paar Minuten nur, Andrej«, sagte sie. »Ich kann nicht ohne Abschied gehen.« Sie lief dem Jungen entgegen.
Mit zornig funkelnden Augen sah Ben zu ihr auf. »Wohin gehst du? Du wolltest mir helfen.«
»Es tut mir leid, Ben.«
»Aber du hast es versprochen.«
»Ich weiß, aber …«
»Ohne Grabstein weiß doch niemand von meinem Vater. Ich will ihn nicht vergessen.« Schniefend wischte Ben sich mit dem Ärmel die Nase ab. Zärtlichkeit erfüllte Maribel. Plötzlich erkannte sie, weshalb sie sich zu ihm hingezogen fühlte.
»Ich weiß genau, was du fühlst, Ben. Ich war dreizehn, als meine Mutter starb, und es tut immer noch verdammt weh.« Auffordernd streckte sie die Arme nach ihm aus. Einen schwachen Moment lang schmiegte er sich hinein. Dann erinnerte er sich daran, dass ein Junge seines Alters keinen Schutz mehr brauchte, und löste sich von ihr.
»Wir müssen los.« Andrej drängte. Die aufgeregten Stimmen, die aus dem Haupthaus über den Hof schallten und immer lauter wurden, verhießen nichts Gutes. Er konnte die Gefahr, die für Maribel von diesem Ort ausging, körperlich spüren. Je eher sie fortkamen, desto größer die Chance, dass ihre Flucht gelang.
»Hier. Für dich.« Andrej zog einen Taler hervor und warf ihn dem
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