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Verlieb dich nie nach Mitternacht

Verlieb dich nie nach Mitternacht

Titel: Verlieb dich nie nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Kent
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Maschendrahtzaun, der sie von ihm und den anderen Gefangenen trennte, die im Steinbruch arbeiteten.
    »Boris!«
    Eine Ewigkeit verging, bis er den Kopf hob und in ihre Richtung blickte.
    »Ich werde dich immer lieben, was auch geschieht.«
    Ein Leuchten glitt über sein Gesicht. Wie von schwerer Last befreit, eilte er auf sie zu.
    »Nichts kann uns trennen, Geliebte. Denk immer daran.«
    Erwartungsvoll spitzte Maribel die Lippen, um Boris durch den Maschendrahtzaun zu küssen. Da sah sie, wie die Eisenkugel an Boris Füßen sich selbstständig machte und mit Schwung auf sie zugeschossen kam. Als sie in Augenhöhe gegen den Zaun prallte, erwachte Maribel mit einem lauten Aufschrei aus ihrem Traum.
    Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als hätte sie soeben einen Tausendmeterlauf absolviert. Verwirrt versuchte sie sich zu erinnern, wo sie sich befand. Es war der 24. Dezember, Heiligabend. Das Rasseln der Sträflingsketten begleitete sie bis in den Weihnachtsmorgen hinein. Schlaftrunken hoffte sie, es würde von allein vergehen.
    Vergeblich.
    Schließlich musste Maribel sich eingestehen, dass das Geräusch sehr real war und aus dem Wohnzimmer kam. Schweren Herzens schlug sie die Bettdecke zurück. Wie viel angenehmer wäre es jetzt, sich noch einmal in die Kissen zu kuscheln, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und einfach abzuwarten, bis das Geräusch von alleine verschwand.
    Doch sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie es keine fünf Minuten aushalten würde, sich nicht um das Problem zu kümmern. Die schlimmeren Zeiten ihres Lebens brachen immer dann an, wenn das Schicksal sie zum Abwarten verurteilte. Angeblich wurde jeder Mensch auf die Welt geschickt, um zu lernen.
    Für Maribel lautete die Aufgabe: Geduld. Geduld. Geduld.
    Der alte Teppichbodenbelag fühlte sich kalt und kratzig unter ihren nackten Füßen an, als sie hinüber ins Wohnzimmer tappte. Unwillkürlich zog sie die Zehen ein. Sie blieb stehen, um das Geräusch zu orten. Der Lärm kam eindeutig aus der Heizung und verhieß nichts Gutes. Misstrauisch befühlte Maribel die Rippen des Heizkörpers. Die Finger konnte sie sich nicht dabei verbrennen. Die Heizung strahlte nur lauwarm, in der oberen Hälfte waren die Rippen sogar kalt.
    Dann plötzlich ein letztes Kreischen, ein Gurgeln, gnädige Stille.
    Erleichtert atmete Maribel auf. Manche Probleme erledigten sich eben doch von allein.
    *
    IHRE NEUE HAUSMEISTERIN HEISST MARIBEL WEBER, PARTERRE RECHTS; TEL:. 5792. FROHE WEIHNACHTEN.
    Zufrieden betrachtete Maribel den Zettel, den sie ans Schwarze Brett geheftet hatte. Manfred Dohmen, ihr Vermieter und Arbeitgeber, hatte ihr geraten, sich bei allen Mietparteien persönlich vorzustellen. Leider vergaß er, dabei zu erwähnen, dass es sich um zweiundneunzig Wohnungen handelte, an denen sie klingeln musste. Zweiundneunzigmal immer dieselben Vorstellungssätze, die ihr bereits nach der dritten Wiederholung zum Hals heraushängen würden. Vorerst musste der Zettel am Pinnbrett genügen.
    Sie schnupperte. Würziger Plätzchenduft, vermischt mit dem Geruch von frischem Grün und Gänsebraten, zog durch das Haus. Obwohl ihr insgeheim davor graute, das Weihnachtsfest allein verbringen zu müssen, spürte sie auch Vorfreude in sich aufkeimen.
    Maribel zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn und trat vor die Tür. Grau und verhangen spiegelte der Himmel ihre eigene Verfassung wider. Der Schneeregen des Vorabends hatte hässliche Pfützen auf dem Bürgersteig hinterlassen. Doch im Gegensatz zu gestern herrschte aufgeregtes Leben auf der Straße. Ein Lastwagen mit Weihnachtsbäumen hielt vor dem Haus mitten im Parkverbot. Als Hausmeisterin war es Maribels Pflicht, ihn von dort zu vertreiben.
    »Kann ich bei Ihnen noch einen Baum kaufen?«, fragte sie stattdessen.
    Die pausbäckige Frau, die über ihrer Kleidung eine grüne, abwaschbare Schürze trug, starrte Maribel an, als käme sie von einem anderen Stern.
    »Heute am Heiligabend bekommen Sie keine Bäume mehr, Kindchen. Da müssen Sie schon weiter rein in die Stadt fahren.«
    Maribel schluckte. Weiter rein in die Stadt bedeutete eine Fahrt von dreißig Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Blick auf die Uhr warnte sie vor dieser Unternehmung, wenn sie noch Lebensmittel für die Feiertage einkaufen wollte.
    »Hier, das können Sie haben.« Die Frau, die Maribels Enttäuschung bemerkt hatte, drückte ihr einen Bund Fichtenzweige in die Hand. Sentimental gestimmt, schossen Maribel die

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