Verlieb dich nie nach Mitternacht
Imbissstube in der Nachbarschaft einen Besuch abzustatten. Gleich morgen früh würde sie dann einkaufen gehen. Sie schlüpfte in ihre dick gefütterte Daunenjacke und stülpte sich eine Wollmütze über die Haare, bevor sie die Wohnung verließ.
Im Treppenhaus lauschte sie einen Moment auf die Geräusche, die gedämpft an ihr Ohr drangen. Noch nie zuvor hatte sie in einem Haus mit so vielen Mietparteien gelebt. Sie versuchte einzuschätzen, ob das fröhliche Lachen aus der zweiten oder dritten Etage zu ihr herunterdrang, doch es gelang ihr nicht. Irgendwo bellte ein Hund. Seltsam, sie meinte, sich daran zu erinnern, dass laut Mietvertrag das Halten von Hunden verboten war. Wenn sie ihre neue Stelle als Hausmeisterin ernst nahm, gehörte es vermutlich zu ihrer Aufgabe, dem Geräusch nachzugehen und den Halter zur Rede zu stellen.
Sie vertagte das Problem. Stattdessen streifte sie die Handschuhe über und öffnete die Haustür.
Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen. Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt erkannte sie die dunklen Umrisse einer kleinen Gruppe Bäume, deren Äste sich im Wind bogen. Außer Maribel schien niemand auf die Behaglichkeit seiner Wohnung verzichten zu wollen. Auch sie überlegte, ob sie sich nicht lieber zurück ins Warme begeben sollte. Doch der Hunger trieb sie vorwärts. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen legte Maribel die Strecke bis zur Imbissstube zurück. Die Absätze ihrer Stiefel hallten in der Straße. Nur in den Büros einiger weniger Betriebe brannte noch Licht. Die anderen schienen alle früh Feierabend gemacht zu haben.
Maribel spürte, wie sich ihre Nackenmuskeln verkrampften. Immer wieder sah sie sich ängstlich um. Es gab keinen konkreten Anlass, sich zu fürchten. Doch etwas Beunruhigendes lag in der Luft. Ein Gefühl, das sie seit dem Tag, an dem Boris verschwunden war, begleitete. Sie fragte sich, wann genau es begonnen hatte. Lag es an ihrer Begegnung mit Pindall, dass sie sich plötzlich verfolgt fühlte?
Erleichtert atmete Maribel auf, als sie um eine Straßenecke bog und die Imbissbude, von ihren Ausmaßen her mehr ein kleines Restaurant, direkt vor ihr lag. Freundliches Licht strömte ihr aus den Fenstern entgegen. Rotweingeschwängertes Gelächter schwoll an, als sie die Tür öffnete. Der Wirt, ein schwarzäugiger Grieche mit einer breiten Narbe am Kinn, lächelte ihr entgegen.
»Einmal Gyros, Pommes, Mayo«, bestellte sie.
»Zaziki?«
»Eine doppelte Portion, bitte.«
Der Mann hinter der Theke wusste Bescheid. Eine solche Bestellung gab nur eine Frau auf, die die Nacht allein verbrachte. Während er mit einem breiten Messer das Fleisch vom Grillspieß direkt in die Schaufel säbelte, zog Maribel den Reißverschluss ihrer Jacke auf und schaute sich neugierig um.
Von den sechs quadratischen Tischen, um die der Wirt jeweils vier Stühle gruppiert hatte, waren fünf besetzt Sie zählte zwei Paare, vier befreundete Frauen, zwei einzelne Männer, von denen einer den orangefarbenen Overall eines Sanitäters der Johanniter trug. Eine Flasche Bier hatte er bereits geleert, die zweite bestellte er soeben per Handzeichen. Hinter ihm lag ein harter Tag. Maribel wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick wie von einem Magneten angezogen am Rücken des zweiten einzelnen Mannes haften blieb, der allein an seinem Tisch saß.
Sie spürte, wie sie zu zittern begann.
Boris.
Wie oft hatte er in ähnlicher Haltung am Küchentisch ihrer alten Wohnung gesessen, während sie ihn von der Diele her heimlich beobachtete. Sie liebte den kurzen Schwung seines Halses hinab zu den kräftigen Schultern. Der Anblick seines breiten Kreuzes versprach Geborgenheit und Verlässlichkeit. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, war sie, so dicht es ging, an ihn herangerückt, hatte versucht, eins zu werden mit ihm und seiner Stärke.
Maribel wischte sich die feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Noch hatte er sie nicht bemerkt. Sollte sie zu ihm gehen und ihn ansprechen? Oder sofort die Polizei anrufen? Er wurde gesucht, unter anderem, weil er auch sie bestohlen hatte.
»Einmal Gyros, Pommes, Mayo und eine doppelte Portion Zaziki«, verkündete der Wirt dröhnend. Aufmunternd schob er Maribel den Teller über die Theke. Als er ihren finsteren Blick auffing, zuckte er beleidigt zurück. Dabei hatte Maribel ihm nur stumm signalisieren wollen, leiser zu sein. Sie hatte Angst, Boris auf sich aufmerksam zu machen, bevor sie selbst wusste, wie sie sich verhalten sollte.
Mit dem Teller in der Hand
Weitere Kostenlose Bücher