Verlieb dich nie nach Mitternacht
Tränen in die Augen.
»Danke. Das ist wirklich nett von Ihnen.«
»Macht fünf Euro fuffzig.«
Ernüchtert betrachtete Maribel die drei Zweige in ihrer Hand, von denen einer bereits die Nadeln verlor. »Das ist Wucher!«
Die Frau streckte gleichmütig die Hand nach den Zweigen aus. Maribel entzog sie ihr mit einer geschickten Bewegung.
»Schämen Sie sich nicht, die Notlage Ihrer Mitmenschen so auszunutzen?«
»Heutzutage muss jeder selbst sehen, wo er bleibt.« Nachsichtig zählte die Frau Maribel das Wechselgeld in die offene Hand.
»Der Staat schröpft uns doch auch, wo er kann. Soll der Kleine immer der Dumme sein? Frohe Weihnachten.« Die Frau ließ das Geld in ihre Schürzentasche gleiten und wandte sich ab. Gemeinsam mit einem Jungen, der vom Alter her ihr Sohn sein konnte, begann sie, die Weihnachtsbäume vom Wagen zu laden.
Maribels Weihnachtsgruß klang reichlich gepresst.
*
Jingle Bells und andere fröhliche Weihnachtslieder dröhnten aus den Lautsprechern, doch die Menschen, die so kurz vor Schluss noch über den Markt hasteten, wirkten wie Mitglieder der GSG 9 oder anderer Kampfeinheiten. Mit finsteren Mienen rangelten sie um den letzten Christstollen, den letzten Karpfen, die letzte Gans. Maribel blieb für die Feiertage ein winziges Stück Schweinefilet, das sie sich mit Backpflaumen und Sahnesoße zubereiten wollte. Zusammen mit einer ausreichend großen Portion Kartoffeln und Gemüse würde es ein prächtiges Festmahl abgeben. Auch der Brotstand war fast leer verkauft. Die meisten Leute hatten vorbestellt. Maribel war froh, wenigstens noch ein Schwarzbrot und eine halbe Stange Baguette zu erwischen. Sie stopfte beides gerade in ihre Einkaufstasche, als sie vor Schreck zusammenfuhr.
Vor ihr schritt Richard Pindall durch die Standreihen. Die Hände auf dem Rücken gefaltet, den Kopf interessiert geneigt, blieb er vor einem Stand mit Nüssen, Mandeln und Gewürzen stehen. Mit fast wissenschaftlichem Interesse betrachtete er die ausgestellte Ware.
War es Zufall, dass er ausgerechnet hier auftauchte? Oder war das Gefühl, beobachtet zu werden, gar nicht so weit hergeholt? Folgte Pindall ihr? Weil er annahm, sie wüsste, wo sich Boris befand?
Mit klopfendem Herzen suchte Maribel hinter einer herabhängenden Plane Deckung, als er unerwartet in ihre Richtung sah. Sie fing die Blicke einiger Passanten auf, die sie neugierig musterten.
Plötzlich kam sie sich schrecklich albern vor. Falls Pindall sie darauf ansprach, würde sie ihm klipp und klar erklären, dass sie seit seinem Verschwinden keinen Kontakt mehr zu Boris hatte. Und die Restaurantrechnung, vor deren Übernahme sie sich durch ihre Flucht gedrückt hatte, würde sie auch bezahlen. Maribel beschloss, sich Pindall zu stellen.
Sie gab sich einen Ruck und trat aus ihrem Versteck hervor. Pindall konnte sie nirgends entdecken. Suchend blickte sie die Standreihen ab. Der Besitzer des Gewürzstandes deckte gerade sorgfältig eine wasserdichte Plane über seine Waren, als sie ihn ansprach.
»Entschuldigung. Der Mann, der vorhin hier stand, der im dunklen Mantel – wissen Sie zufällig, in welche Richtung er gegangen ist?«
Der Standbesitzer, ein ergrauter Südländer, bekam schmale Augen. »Nein.«
»Etwas über ein Meter achtzig groß, dunkle Haare, leicht ergraute Schläfen.«
Ein Schwall schmutzigen Regenwassers ergoss sich direkt vor ihre Füße, als der Mann die Markise seines Standes einfuhr. Maribel sprang einen Schritt zurück.
»Hier kein Kunde war seit einer halben Stunde.«
»Danke.« Verwirrt wechselte Maribel ihren Baumwollbeutel von der rechten in die linke Hand. Die schmalen Träger schnitten ihr ins Fleisch. Sie hatte Pindall deutlich erkannt.
Oder doch nicht?
Maribel erinnerte sich an eine Radiosendung, die sie vor noch nicht allzu langer Zeit gehört hatte und in der über Menschen in Stresssituationen berichtet worden war. Angeblich neigten sie zu Sinnestäuschungen, ähnlich wie Durstende in der Wüste. Ihr Unterbewusstsein gaukelte ihnen Trugbilder vor.
Maribel beschloss, ihrem Unterbewusstsein zu helfen und die bevorstehenden Feiertage zu ihrer Erholung zu nutzen.
*
Zurück in ihrer Wohnung, verstaute sie Schweinefilet und Brot im Kühlschrank. Das dumpfe Pochen hinter ihren Schläfen kündigte Kopfschmerzen an. Wenn sie ehrlich mit sich war, fühlte sie sich bereits seit Tagen am Rande ihrer Kräfte. Boris. Die Kündigung. Der Umzug. Was andere vielleicht in Jahren erlebten, erledigte sie in zwei
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