Verlieb dich nie nach Mitternacht
setzte den Schraubenschlüssel an. Die Schraube bewegte sich keinen Millimeter.
Über ihr im Haus mehrten sich die aufgeregten Stimmen. Das Getrampel vieler Füße verriet ihr, dass die Hausbewohner auf dem Weg nach unten zu ihr in den Keller waren.
Maribel verwünschte sich für ihre Entscheidung, die Stelle der Hausmeisterin angenommen zu haben. Daran war nur wieder ihre dumme Ungeduld schuld. Der Gang zum Arbeitsamt wäre mit weniger Komplikationen und Gefahren verbunden gewesen.
Noch einmal setzte sie das Werkzeug an. In ihrer Panik hängte sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht an den Schlüssel.
»Wenn ich die Tussi zu fassen krieg, schüttelte ich die eigenhändig aus dem Anzug. Uns ausgerechnet Heiligabend frieren zu lassen.« Die schützende Wand zwischen ihnen nahm der kräftigen Männerstimme nichts von ihrer Entschlossenheit.
Feiner Sprühnebel regnete auf Maribel herab und benutzte ihr Gesicht. Sie widerstand dem Reflex, ihn abzuwischen. Stattdessen verstärkte sie ihren Druck auf den Schraubenschlüssel noch.
Die Tür zum Heizungskeller knarrte bedrohlich, als sie aufgerissen wurde. Ein Kerl wie ein Baum füllte den Türrahmen aus.
»Sie ist im Heizungskeller!«
Im selben Moment gab die Schraube nach. Weißer Wasserdampf entwich, breitete sich aus und nahm von dem Raum Besitz.
Maribel kümmerte es nicht. Neben dem Kessel hatte sich eine Tür weit geöffnet, die sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Einladend leuchtete es dahinter.
»Ich warte, Maribel!«
Es war seine Stimme, die sie rief.
Die Stimme des Mannes, den sie liebte.
Mit dem sie für immer zusammen sein wollte.
Boris rief sie.
Gehetzt flog Maribels Blick zu dem Koloss, der sich von der Tür des Heizungskellers auf sie zubewegte. Sie war keine schreckhafte Natur, doch ihre Nerven lagen blank. Ihr fehlte die Kraft für weitere Diskussionen und Rechtfertigungen.
Boris bat sie, zu ihm zu kommen, und sie folgte seinem Ruf.
IX
Ein heftiger Sog erfasste Maribel, kaum dass sie die Schwelle überschritten hatte. Kälte breitete sich in ihrer Lunge aus. Sie geriet in Panik, als der Boden unter ihren Füßen zu schwanken begann. Instinktiv suchte sie nach Halt und war froh, einen Mann auf sich zukommen zu sehen, der ihr seine Hand entgegenstreckte.
»Kommen Sie rasch!« Er packte sie fest am Handgelenk und zog sie hinter sich her.
»Pindall? Sind Sie das?« Der Boden unter ihren Füßen bewegte sich immer heftiger, doch ihr Begleiter schien nichts von ihrem aufgewühlten Zustand zu bemerken.
»Halten Sie an, bitte. Ich kann nicht …« Maribel rang nach Luft. Sie kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, während sie ihm mit unsicheren Schritten in einen stockfinsteren Gang hinein folgte, der merkwürdigerweise nach unten zu führen schien. Von Zeit zu Zeit erhellten grelle Blitze die Finsternis. Maribel spürte, wie ihr übel wurde. Achterbahnfahren hatte sie noch nie vertragen, und dieser Trip erinnerte sie ganz entschieden daran. Nur Pindalls fester Händedruck schien sie noch daran zu hindern, auf der Stelle ohnmächtig zu werden.
Dann, plötzlich, schlug ihr kalter Wind entgegen. Schneeflocken rieselten auf sie herab, direkt in den abstehenden Kragen ihres Overalls hinein. Der Boden unter ihren Füßen gewann wieder an Festigkeit. Maribel schnappte keuchend nach Luft, sog sie tief in sich hinein. Der Wind zerrte in ihren Haaren.
Erleichtert wanderte ihr Blick hinauf zum Himmel, an dem die Sterne um die Wette blinkten. Einer von ihnen leuchtete besonders hell.
Der Weihnachtsstern.
Maribel schlang die Arme um ihre Schultern und erschauerte. »Ist er nicht schön?«
»Komm! Es eilt!« Der ungeduldige Ton der Stimme, von der sie geglaubt hatte, sie gehöre Pindall, ließ Maribel herumfahren.
Der Mann neben ihr war nicht Pindall. Er sah ihm noch nicht einmal besonders ähnlich. Die gleichen eisblauen Augen, das gleiche energische Kinn. Doch die Nase wirkte breiter. Auch stimmte die Frisur nicht überein. Die Koteletten reichten dem Mann tief bis zum Kinn, wo sie in einem schmalen Streifen am Kieferknochen entlang nach vorne aufeinander zuliefen, um in Höhe des Kinngrübchens zusammenzutreffen.
»Wer sind Sie? Wo ist Boris?«
»Ich kennen keinen Mann dieses Namens. Mein Wagen steht dort drüben.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt.«
Eiskalte Enttäuschung erfasste Maribel. Sie hatte sich lächerlich gemacht, war ihrem eigenen Wunschdenken aufgesessen. Tausend Eide hätte sie darauf geschworen, dass es seine
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