Verlieb dich nie nach Mitternacht
vielen Falten hinunter bis zu den Knöcheln.
Das ist Empirestil, erinnerte sich Maribel an den Zeichen- und Geschichtsunterricht, den sie vor Jahren in der Schule genossen hatte. Damals liebte sie es, nach der Vorlage alter Modekupfer die Damen der napoleonischen Ära mit schwarzer Tusche nachzuzeichnen.
Ein Schwall warmer Flüssigkeit schwappte über ihre Füße und riss sie aus der Erinnerung.
»Merde!« Neben ihr fluchte Friedrich leise. Offenbar hatte er ebenfalls etwas abbekommen.
»Das Fruchtwasser. Es geht los.« Maribels Nerven flatterten. Zumal Friedrich sich plötzlich in die entgegengesetzte Richtung davonmachte.
»Ich sehe nach den Pferden.«
»Aber Ihre Frau braucht Sie jetzt!«
Er ignorierte ihren Zuruf. Eilig entfernte er sich von der Kutsche. Die Pferde begrüßten ihn mit freudigem Schnauben.
Eine bessere Gelegenheit zur Flucht würde es für Maribel möglicherweise nicht wieder geben, darüber war sie sich im Klaren. Nach wenigen Schritten würde die Dunkelheit sie verschlucken. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als einfach in die Richtung zu laufen, aus der sie gekommen war. Bis Friedrich ihr Fehlen bemerkte, wäre sie längst über alle Berge. Aus Sorge um seine Frau würde er Agnes nicht noch einmal allein lassen.
Trotzdem zögerte Maribel. Es fiel ihr nicht schwer, sich in die Lage der Gebärenden hineinzuversetzen. Es musste schrecklich für sie sein, ihr Kind in einer zugigen Kutsche zur Welt bringen zu müssen. Fernab jeder Zivilisation. Ohne Krankenhaus, Arzt oder Hebamme.
Die Frau brauchte sie.
»Legen Sie sich auf den Boden!«, befahl Maribel, mürrisch über sich selbst, weil sie es nicht schaffte, nur an ihren eigenen Vorteil zu denken. Sie nahm eine Decke und breitete sie auf dem Boden der Kutsche aus. Eine zweite Decke faltete sie zu einem Kissen, damit Agnes ihren Kopf darauf betten konnte. Bevor sie damit fertig war, krümmte Agnes sich bereits unter der nächsten Wehe. Der Rhythmus hatte sich verändert. Die Wehen kamen nun viel rascher und heftiger hintereinander als noch vor wenigen Minuten. Maribel reichte Agnes die Hand und half ihr, sich auf den Boden zu legen. Das Gesicht der Frau war jetzt mit Schweiß bedeckt. Instinktiv streifte Maribel ihr die Röcke nach oben, doch trotz ihres geschwächten Zustands wehrte die Frau sich heftig.
»Nicht.«
»Aber ich kann nichts sehen.«
»Sie können es fühlen.«
»Sie glauben an den Koran?«
»Um Gottes willen, nein! Ich bin katholisch. Es schickt sich nicht.«
Irritiert ließ Maribel den Rock los. Sofort schob Agnes ihn mit der rechten Hand zurück nach unten über ihre Beine. Die linke krallte sie schmerzerfüllt in die wollene Decke, auf der sie lag. Über so viel Eigensinn und Unvernunft schüttelte Maribel nur den Kopf.
»Dann ziehen Sie wenigstens Ihre Unterhose aus. Sonst denkt Ihr Baby noch, es plumpst in einen Kartoffelsack.«
»Aaaaaah.«
Der lang gezogene Schrei ging nicht nur Maribel durch Mark und Bein. Eins der Pferde stieg vor Schreck auf die Hinterhufe. Maribel bemerkte, wie der Atemrhythmus der Frau sich veränderte.
»Pressen! Kommen Sie, strengen Sie sich an!«
Die Geburt war nun im vollen Gange. Agnes machte mit, so gut es ging, und presste. Doch Wehe folgte auf Wehe. Es schüttelte sie. Vor Anstrengung war sie nicht mehr in der Lage, sich selbst von der Unterhose zu befreien.
Ohne auf die nur noch schwachen Proteste zu achten, schlug Maribel die Röcke zurück. Mit der freien Hand zerrte sie an der pludrigen Hose. Als die nicht nachgab, riss sie den dünnen Stoff einfach entzwei. Agnes stieß einen letzten, urgewaltigen Schrei aus.
In der nächsten Sekunde flutschte Maribel das Baby in die ausgestreckten Hände. Fast wäre ihr das blutige, mit Schleim bedeckte Bündel auf den Boden gefallen.
»Es ist ein Junge!« Über Maribel schlug eine Welle von Euphorie zusammen. Bewundernd betrachtete sie den kleinen Menschenwurm, der sich auf ihrem Arm wand. Das Kind war perfekt. Zwei Arme, zwei Beine, schwarzes, dichtes Haar. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich an die sternenklare Kälte dieser Nacht erinnerte. Sehr behutsam und liebevoll wickelte sie das Kind in eine Decke und legte es Agnes in die Arme.
Die junge Mutter nahm ihren Sohn wie einen Schatz entgegen. Leiser Triumph blitzte in ihren Augen auf.
Noch verband die Nabelschnur Mutter und Kind. Unschlüssig überlegte Maribel, wie sie vorgehen sollte. Plötzlich fiel ihr ein, wie ihre Großmutter früher immer den frischen Biskuitteig in
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