Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlieb dich nie nach Mitternacht

Verlieb dich nie nach Mitternacht

Titel: Verlieb dich nie nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Kent
Vom Netzwerk:
herum begann die Stille zu atmen. Winzige Füße trippelten ganz in ihrer Nähe über den Boden.
    Ängstlich schob Maribel die Beine an den Körper heran. Um nicht in lautes Schluchzen auszubrechen, stopfte sie sich die Hand in den Mund.
    *
    Maribel überstand die erste Nacht in ihrem Gefängnis, ohne den Verstand zu verlieren. Sie erwachte, als nebenan in der Vorratskammer mit metallenen Eimern hantiert wurde. Der Duft des geräucherten Schinkens stieg ihr in die Nase. »Hallo, ist da jemand? Ich habe Hunger.« Maribel presste ihr Ohr gegen die Holztür. Es konnte nur Lisettes Kichern sein, das sie hörte.
    »Lisette, hörst du mich?« Mit der Faust hämmerte Maribel gegen das Holz. Sie zuckte zurück, als die Schläge auf der anderen Seite erwidert wurden.
    Der Riegel wurde aufgeschoben. Maribel verstand nicht, was ihr französischer Bewacher sagte, aber geistesgegenwärtig fing sie die Decke auf, die er ihr zuwarf. Lisette nutzte die Gelegenheit, um ihr einen verbeulten Zinkeimer in den Raum zu schieben. »Für deine Notdurft.«
    Maribel fühlte, wie sie errötete. »Ich habe Hunger, Lisette.«
    »Hier. Wasser und Brot. Mehr gibt’s nicht für dich.« Die Tür knallte hinter dem Mädchen zu, bevor Maribel etwas erwidern konnte.
    Brot und Wasser.
    Besser als nichts.
    *
    Fünf Schritte in die Breite, sechs in die Länge. Kaum genug Platz, um sich die Beine zu vertreten. Wieder und wieder schritt Maribel ihr Gefängnis ab, ohne dass sich am Ergebnis etwas änderte. Bei Tag flößte der Raum ihr keine Angst mehr ein. Durch ein Gitter vor der schmalen Fensteröffnung drang ausreichend Licht, um zu erkennen, wo sie sich befand. Man brachte ihr Stroh und noch ein paar Decken.
    Irgendwann schlief sie ein.
    Ein unruhiger Schlaf, in dem die Ereignisse der letzten Stunden sich zu einem schrecklichen Albtraum verwoben, der Maribel trotz der Kälte den Schweiß auf die Haut trieb:
    Wie ein Lindwurm kroch unter dem Gejohle einer gaffenden Menschenmenge eine endlose Reihe Gefangener durch die Straßen von Paris. Mit Seilen aneinandergekettet wie Vieh. Eine von ihnen war sie.
    »Auf die Guillotine mit ihr!«, forderte eine Frau, die sich weit aus ihrem Fenster lehnte, mit hassverzerrtem Gesicht. Maribel erkannte Elisabeth Vita, die mit einer faulen Tomate nach ihr zielte. Die Frucht zerplatzte vor ihren Füßen auf dem Straßenpflaster. Der Zug stockte, als der Gefangene, der ihn anführte, die Guillotine bestieg. Sekunden später rollte sein Kopf unter dem wollüstigen Aufschrei der Massen in den dafür vorgesehenen Korb.
    Maribel trat um sich, als sie Boris erkannte, der mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel starrte. Doch unbarmherzig zerrte der Lindwurm sie mit, als er sich weiter auf den Scharfrichter zubewegte.
    Noch elf Köpfe, dann war sie an der Reihe.
    »Ich will nicht sterben!«
    Maribel erwachte von ihrem eigenen Schrei.
    *
    Gerade einmal zwei Tage waren vergangen. Eine kurze Zeit, wenn man sie allein in einer zentral beheizten Wohnung verbrachte. Eine Ewigkeit, wenn man sich wie Maribel in einer fremden Zeit unter fremden Menschen mit fremden Sitten und Gebräuchen zurechtfinden musste. Wenn wenigstens Friedrich sich um sie kümmern und für sie sorgen würde. Doch er schien sich nicht einmal ansatzweise für sie verantwortlich zu fühlen.
    Was hatte das fremde Jahrhundert bloß aus Boris gemacht? Nie hätte der Boris des einundzwanzigsten Jahrhunderts zugelassen, dass man sie bei Wasser und Brot in einem Keller einsperrte.
    Sie fühlte sich wie ein weiblicher Robinson Crusoe, ausgesetzt auf einer Insel, ausgestattet mit nichts als dem Willen, zu überleben. Eine Welle von Selbstmitleid schlug über Maribel zusammen. Sie zog die Decke bis hinauf zum Kinn, als sie sich darunter zusammenkrümmte.
    Ihr Elend hatte sie nur Boris zu verdanken. Boris mit seinen eisblauen Augen unter den buschigen Brauen und dem hellen Haar, das ihm ungebändigt und dicht in die Stirn hing. Boris mit der schmalen Zahnlücke zwischen den schneeweißen Vorderzähnen. Boris mit dem betörenden Lächeln eines rauflustigen Abenteurers.
    Damals, an dem Abend in der Bar, hatte sie zurückgelächelt. Noch am selben Abend hatten sie miteinander geschlafen. Eine Woche später zog er bei ihr ein. Maribel fragte nie, wo er arbeitete, womit er sein Geld verdiente. Sie beließ es bei seiner lapidaren Erklärung: »Geschäfte«.
    Zweihundert Jahre zurück schüttelte Maribel den Kopf über so viel Leichtgläubigkeit. Sie hatte Boris vertraut wie ein

Weitere Kostenlose Bücher