Verlieb dich nie nach Mitternacht
Arbeit als Schweinejunge an Gretes gute Küche gewöhnt war und seiner Familie immer wieder Köstlichkeiten mitbrachte, die die Köchin ihm zusteckte, schämte sich für seine Armut. Maribel lächelte ihn offen an. Eine weitere Aufmunterung brauchte Ben nicht, um sich zu entspannen.
Auf dem Weg hierher hatte Grete ihr einiges über die Familie des Jungen erzählt. Bens Eltern hatten viele Jahre lang eine glückliche Ehe geführt. Beide verdingten sich als Tagelöhner und verdienten vom Frühjahr bis zum Beginn der Winterarbeiten gutes Geld. Im Sommer arbeiteten sie Akkord auf dem Feld, was ihren Lohn noch verbesserte. Ben war geboren worden, und zwei weitere Geschwister folgten. Die junge Familie wäre gut ausgekommen, wenn das Schicksal sie nicht heimgesucht hätte. Bens Mutter ging mit dem vierten Kind schwanger, als ihr Mann tot ins Haus getragen wurde. Er war beim Holzfällen von einem Baum erschlagen worden. Seitdem fehlte das Geld an allen Ecken und Enden. Das Angebot, in Zukunft bei der Familie von Leyen als Amme zu arbeiten, kam Bens Mutter wie ein Geschenk des Himmels vor. Trotzdem zögerte sie.
Angesichts der jüngsten politischen Ereignisse knüpfte Agnes von Leyen die Arbeit an eine Bedingung. Sie bestand darauf, dass Bens Mutter mit ihren Kindern zu ihnen auf den Isselshof zog. Berta aber war es gewohnt, in ihrer eigenen Küche zu wirtschaften. Es widerstrebte ihr, sich unter Gretes Fuchtel zu begeben. Doch zum Wohl ihrer Kinder willigte die Witwe schließlich ein.
Obwohl die Familie nicht viel besaß, vergingen Stunden, bis die Frauen Kleidung und einige unentbehrliche Gebrauchsgegenstände auf dem Karren verstaut hatten. Bens Mutter nahm mit dem Jüngsten vorne neben Grete auf dem Kutschbock Platz. Maribel setzte sich nach hinten, zog ein kleines Mädchen auf ihren Schoß, ein zweites nahm sie in den Arm.
»Alles wird gut«, versuchte sie Ben zu beruhigen, der sich voller Unbehagen nach dem Haus umsah, das immer weiter in die Ferne rückte.
*
Sie hatten den Ort hinter sich gelassen und etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Um sie herum herrschte nächtliche Dunkelheit. Der Mond, der ihnen eine Zeit lang den Weg geleuchtet hatte, versteckte sich nun hinter dicken Wolken. Das kleine Mädchen auf Maribels Schoß war längst eingeschlafen. Von Zeit zu Zeit stieß es im Schlaf kleine Seufzer aus. Gerne hätte Maribel es dann gestreichelt, doch sie brauchte ihre freie Hand, um Ben und seine zweite Schwester mit Decken vor der Kälte zu schützen.
Irgendwann begann Maribel, leise ein Schlaflied zu singen: La le lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du.
»So ein schönes Lied hat Mutter uns noch nie vorgesungen.« Maribel lächelte das kleine Mädchen zärtlich an.
Sie passierten ein dichtes Waldstück, als das Pferd, das den Karren zog, nervös die Nüstern blähte. Angespannt fasste Grete die Zügel kürzer. Im nächsten Moment krachte es neben ihnen im Unterholz. Maribels Kopf flog herum, als ein Reiter mit seinem Pferd aus dem Wald preschte. Weitere Reiter folgten. Sie umzingelten den Karren. Der Anführer der Gruppe schrie Grete einen Befehl zu. Als Antwort gab Grete dem Pferd die Peitsche. Doch es nützte ihnen nichts. Mit ihrem Karren waren sie zu langsam für die Reiter. Von beiden Seiten griffen sie Grete in die Zügel. Die Kinder weinten vor Angst.
»Dawai, dawai!«
Maribel presste die Kinder an sich, um sie zu beschützen. Instinktiv rückte sie näher nach vorne an den Kutschbock heran und signalisierte Ben mit dem Kopf, es ihr nachzutun. Aneinandergedrängt warteten sie, was als Nächstes geschehen würde. Es waren russische Soldaten, von denen sie umzingelt waren. Vor ihnen standen ihre Befreier. Doch es fühlte sich nicht so an.
Der Anführer des kleinen Kommandos schüttete einen Wortschwall in russischer Sprache über ihnen aus. Erst beruhigend, dann bittend, schließlich drohend. Er verzweifelte an ihrer offensichtlichen Begriffsstutzigkeit. Durch halb Europa war er geritten, um die Menschen vor diesem selbstgefälligen Korsen zu beschützen, doch niemand verstand ihn. Die Frauen und Kinder, die sich vor ihm ängstlich zusammenkauerten, starrten ihn an, als entspränge er geradewegs der Hölle. Dabei wollte er doch bloß ihren Karren, um die eigenen Verletzten besser transportieren zu können. Jedenfalls die, mit deren Genesung in absehbarer Zeit zu rechnen war. Für die anderen war es ohnehin besser, sie blieben, wo sie waren,
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