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Verlieb dich nie nach Mitternacht

Verlieb dich nie nach Mitternacht

Titel: Verlieb dich nie nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Kent
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irgendwann hoben sich die Schleier, die sich über ihr Bewusstsein gelegt hatten.
    »Danke«, krächzte sie, als die Frau das nächste Mal nach ihr sah. Das Innere ihrer Kehle fühlte sich rau wie ein Reibeisen an. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Was ist passiert?«
    »Du bist am Fieber erkrankt, wie so viele in diesen Tagen.« Die Frau ließ das feuchte Tuch, das als Wickel vorgesehen war, zurück in die Schüssel mit kaltem Essigwasser gleiten. »Das kommt davon, wenn man bei der Eiseskälte ohne einen vernünftigen Mantel im Freien herumläuft. Ihr jungen Dinger seid viel zu leichtsinnig, was die Kleidung angeht. Ihr wollt immer nur glänzen und glitzern.«
    Maribel lächelte schwach. Die Frau klang wie früher ihre Großmutter, wenn sie sich ereiferte. »Was für ein Tag ist heute?«
    »Der 12. Januar 1814.«
    Enttäuscht versuchte Maribel, sich aufzurichten.
    Der 12. Januar 1814, wiederholte sie für sich. Zwölf Tage waren vergangen, seitdem sie Friedrich und den Isselshof verlassen hatte. Zwölf Tage, doch sie befand sich immer noch im Gefängnis. Als ihr schwindelig wurde, griff sie Halt suchend nach der Eisenkante der Pritsche, auf der sie lag.
    »Ich bin ganz bestimmt noch immer im Gefängnis?« Tief in ihrem Innern konnte sie es nicht glauben. Friedrich, der Mann ihres Lebens, überließ sie ihrem Schicksal. Er hatte sie vergessen.
    Anna nickte grimmig. »Der Lieutenant sagt, hier bist du am richtigen Ort.«
    »So, sagt er das.« Maribel bemühte sich, den abschätzenden Ton in ihrer Stimme zu überhören. Grenzenlose Niedergeschlagenheit überkam sie.
    Friedrich war gleichgültig, was mit ihr geschah.
    »Ich fühle mich grässlich. Haben Sie bitte eine Bürste und vielleicht einen Spiegel für mich?« Maribel widerstand dem Drang, sich die juckende Kopfhaut zu kratzen.
    Die Frau legte die Stirn in Falten, als sie nachdachte. »Vorne im Waschraum ist ein Spiegel. Ich lass dich aus deiner Zelle.«
    Maribel winkte ab. »Das gibt nur Ärger, wenn man mich erwischt.« Wahrlich, sie hatte ihre Lektion gelernt.
    »So schnell kommen die nicht zurück. Alle verfügbaren Männer sichern das Ufer. Der Lieutenant selbst wurde zum Wehroffizier nach Mönchengladbach gerufen.« Energisch half sie Maribel von ihrem Lager auf.
    »Ich fühle mich wie zweihundert«, stöhnte Maribel.
    »Der Herr im Himmel bewahr mich davor, so alt zu werden. Der Tod macht schon seinen Sinn.« Ächzend bugsierte Anna das Mädchen zu dem Schemel im Waschraum, wo es sich erschöpft niederließ.
    Aufs Schlimmste gefasst, schaute Maribel in den matten Spiegel, der sonst den Soldaten zum Rasieren diente. Die Frau, die ihr entgegensah, war ihr so fremd wie die Zeit, in der sie sich befand.

XIX
    Andrej Makejew hockte ein wenig weiter vom Feuer entfernt als die Soldaten, die ihm unterstellt und bis hierher gefolgt waren. Die Männer brachen Äste in kleine Stücke, warfen sie ins Feuer und pusteten in die Glut, bis die Flamme zu knistern und zu zischen begann. Einer nach dem anderen rückte ans Feuer.
    Ein magerer Mensch mit schlechten Zähnen stimmte mit seinem überraschend reinen Bariton ein melancholisches Lied aus seiner Heimat an. Es dauerte nicht lange, bis die meisten der Kameraden leise mitsangen.
    Auch Andrejs Gedanken wanderten zurück in die Weite seiner Heimat. Wo er seien Eltern und seine unverheiratete Schwester zurückgelassen hatte. Für ihn gab es mehr als einen Grund, sein Vaterland gegen die Truppen Napoleons zu verteidigen. Ja, mehr noch, sie für alle Zeiten zu vertreiben und zu besiegen.
    Leichtsinnig und verantwortungslos waren die harmlosesten Schimpfwörter, die ihm sein Vater zum Abschied an den Kopf geworfen hatte. Was seine Mutter jedoch nicht daran hinderte, Tränen um ihn zu weinen, als er mit den Kameraden seiner Kompanie die Stadt verließ.
    Wäre er auch mitgegangen, wenn er geahnt hätte, welches Leid der Krieg ihm und seinen Kameraden bringen würde? Vermutlich. Denn mehr als einer wünschte ihm daheim einen Strick um den Hals. Weil er mit seiner Spielleidenschaft so manchen guten Mann an den Rand des Ruins getrieben hatte.
    Doch immer häufiger rissen ihn nachts Albträume aus dem Schlaf. Zu viele Soldaten hatte er sterben gesehen. Diejenigen, die es wie der bis an die Ufer des Rheins geschafft hatten, gehörten zu den körperlich und seelisch Kräftigsten, die das Heer zu bieten hatte.
    Sein Blick blieb an seinem rechten Stiefel hängen, dessen Sohle sich an der Spitze vom Leder ablöste. Stiefel waren in

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