Verlieb dich nie nach Mitternacht
diesem verfluchten Krieg Mangelware. Die große Schar Franzosen, die sie heute Nachmittag gefangen genommen hatten, war in dieser Hinsicht eine Enttäuschung gewesen. Auch von ihnen trug kaum einer vernünftiges Schuhwerk an den Füßen. Nur wenige der Männer, vermutlich die, die noch nicht so lange dabei waren, besaßen echte Stiefel.
Andrej zog eine Schnur aus seiner Jackentasche und wickelte sie mehrmals um Sohle und Leder. Auf diese Weise würde der Stiefel halten, bis er zu neuen kam.
Während die anderen am Feuer noch einmal die vergangene Schlacht Revue passieren ließen, wanderte Andrej einige Schritte vom Lager fort. Von seinem neuen Standpunkt aus konnte er deutlich den Rhein erkennen, der als offizielle Grenze zum Franzosenland galt. Für den nächsten Tag hatte er den Befehl erhalten, mit seinen Kosaken den Fluss zu überqueren.
Stolz und aufrecht stand Andrej da und blickte auf die andere Seite. Dort würde sich sein Schicksal erfüllen. Er spürte es mit jeder Faser seines Herzens, das laut und unüberhörbar nur einen Namen schrie:
MARIBEL!
XX
Gretes erster Weg hatte sie zur Gendarmerie geführt. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen.
Doch das Mädchen gefiel ihr ganz und gar nicht. Blass und schwächlich wirkte es, wie ein gefallener Engel. Das Fieber hatte seine Spuren hinterlassen. Von Anna, mit der sie schon als Kind Kartoffeln gestoppelt hatte, wusste sie, dass sämtliche verfügbaren Männer, die Dienst an der Waffe leisteten, an die Rheinfront abkommandiert worden waren. Der befehlshabende Lieutenant hielt sich im militärischen Hauptquartier auf, um neuen Befehle entgegenzunehmen.
Der Machtwechsel schien unmittelbar bevorzustehen. Nach zwanzig Jahren Franzosenherrschaft erfüllte die Nachricht auch Grete mit Vorfreude und neuen Ängsten. Unruhe trieb sie. »Ich nehm dich mit nach Hause auf den Hof und damit basta!«
»Der Hof ist nicht mein Zuhause.« Nachdem Maribel sich gewaschen und von der heißen Suppe gekostet hatte, die Anna ihr anbot, fühlte sie sich wieder kräftiger.
»Ach, und wo bist du dann zu Hause, gnädiges Fräulein?« Grete reagierte verärgert, weil sie genau wusste, dass ihr Herr das Mädchen auf der Straße aufgegriffen hatte.
»Jedenfalls nicht hier«, beharrte Maribel.
»Ha! Dass du nicht in der Gendarmerie wohnst, will ich dir wohl glauben! Du gehörst auf den Hof wie wir alle. Und jetzt komm mit. Der Schweinejunge ist uns voraus zu seiner Mutter gelaufen. Sie soll bei uns als Amme dienen.«
Störrisch blieb Maribel sitzen.
Das junge Ding vor ihr begriff offensichtlich nicht, wie ernst und gefährlich die Lage war. »Überleg es dir gut, Maribel. Glaub mir, das sind ausgehungerte Gesellen, die Soldaten. Was glaubst du, passiert, wenn die Franzosen erst geflohen sind? Unsere Befreier …« Sie schnitt eine spöttische Grimasse. »Wenn die ein hübsches junges Ding wie dich allein im Gefängnis oder sonst wo vorfinden, fackeln sie nicht lange. Die reiten dich, bis du unter ihnen zusammenbrichst.«
Mit Befriedigung beobachtete die Köchin, wie ihre drastischen Worte endlich in Maribels Bewusstsein vordrangen. »Der gnädige Herr hat jedenfalls angeordnet, dass wir mit der Herrschaft unter einem Dach leben, bis sich die Lage geklärt hat.« Demonstrativ wandte sie sich zur Tür.
Maribel wusste, dass Grete recht hatte. Ohne männlichen Schutz setzte sie sich mutwillig der Willkür vagabundierender Soldaten aus. Welche Demütigungen Frauen in Kriegszeiten oftmals zu ertragen hatten, wusste sie aus den Nachrichten in Rundfunk und Fernsehen. Verhielten sich die Krieger des einundzwanzigsten Jahrhunderts schon wie Barbaren, dann war von denen des neunzehnten Jahrhunderts kaum Besseres zu erwarten. Auf dem Hof war es in jedem Fall sicherer für sie.
Wo sollte sie sonst auch hin?
»Warte, ich komme mit«, rief Maribel. Grete brummte etwas Unverständliches und ging ihr voraus.
*
Ben, der Schweinejunge, fasste Maribel vertrauensvoll an der Hand, als sie hinter Grete das kleine, schiefwinklige Haus betrat, in dem seine Mutter mit seinen Geschwistern lebte. Berta Stein drängte ihr Gäste, mit ihnen gemeinsam zu Abend zu essen. Die Armut der Familie war offensichtlich, doch es wäre unhöflich gewesen, den Teller mit Milchsuppe, den sie ihnen anbot, abzulehnen. Die Suppe schmeckte nach nichts. Nach nichts außer mit Wasser verdünnter Milch. Aus den Augenwinkeln bemerkte Maribel, wie Ben mit geröteten Wangen zu ihr herüberschielte. Der Junge, der dank seiner
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