Verlieb dich nie nach Mitternacht
erschreckte.
*
Die Trauer über den Tod des kleinen Wilhelm hielt den Hof und seine Bewohner gefangen. Selbst die einquartierten fremden Soldaten schienen weniger fröhliche Gesänge anzustimmen als sonst. Mehr als einmal versuchte Maribel, in Friedrichs Nähe zu gelangen, um ihm ihr Mitgefühl auszusprechen, ihn zu trösten. Doch er wich ihr aus, mied ihren Blick, wann immer sie zusammentrafen. Maribel dachte, dass außer ihr es niemand bemerkte, doch Grete belehrte sie eines Besseren.
»Der gnädige Herr kennt seinen Platz. Die gnädige Frau braucht ihn jetzt.«
»Ich weiß.« Ein Seufzer begleitete ihre Worte.
»Eines Tages wird auch für dich der richtige Mann kommen. Einer, in dessen Herzen du den ersten Platz einnimmst.«
»Na, ich weiß nicht.«
»Kein verheirateter Gutsbesitzer. Und erst recht kein Soldat.«
»Ach, Grete, manchmal ist die Wahrheit viel komplizierter, als du sie dir vorstellst.«
Es brannte Maribel auf der Zunge, Grete von ihrer Reise durch die Zeit zu berichten. Von ihrer Liebe zu Boris und ihrer Suche nach ihm. Stärker denn je wünschte sie sich, endlich zurückkehren zu können. Weg von Friedrich, dem sie in seiner Trauer nicht beistehen konnte, mit dem es keine gemeinsame Zukunft gab. Und weg von Andrej, der sich einen Spaß daraus machte, sie mit seinem gefährlichen Charme zu betören. Friedrich hatte ihr versprochen, bei der Suche nach der Zeitschwelle zu helfen, doch sie wagte nicht, ihn daran zu erinnern. Er hatte andere Sorgen.
Abermals seufzte Maribel tief und schwer. Mit einem verständnisvollen Lächeln nahm Grete den aufgegangenen Hefeteig aus der Schüssel. Laut klatschend begann sie ihn zu schlagen. »Du wirst sehen, alles wird gut.«
Maribel verdrehte die Augen. »Darf ich den Teig schlagen?«
Sie drosch auf ihn ein, als kämpfe sie um ihr Leben.
*
»Leidet Ihre Frau an Husten?« Der Arzt sah nun täglich nach Agnes. Wieder hatte er seine Untersuchung beendet. Im Nebenzimmer schrieb er ein neues Rezept auf. Das blasse, ausgemergelte Gesicht mit den roten Flecken auf den Wangen gefiel ihm gar nicht. Ein ähnliches Aussehen kannte er von Patienten, die an Schwindsucht erkrankt waren.
»Ich weiß es nicht.« Vergeblich versuchte Friedrich, sich zu erinnern. Agnes klagte seit der Geburt des Kindes verstärkt über Schwäche, aber Husten hatte sie seines Wissens nie erwähnt.
»Von Blutspuren im Auswurf hat sie auch nicht berichtet?«
»Nein!« Diesmal klang Friedrich entsetzt.
»Ich würde mir Ihre Frau gerne noch einmal ansehen, sobald sie sich wieder etwas gefangen hat. Im Moment ist es wichtiger, dass sie die nächsten Tage bis zur Beerdigung übersteht. Hier!« Der Arzt überreichte Friedrich das Rezept, das er in der Zwischenzeit geschrieben hatte. »Ein Mittel zur Stärkung. Lassen Sie es in der Apotheke für Ihre Frau mischen. Wenn sie es zweimal täglich einnimmt, wird sie wieder zu Kräften kommen.«
Benommen nahm Friedrich das Papier entgegen, faltete es und steckte es in seine Jackentasche.
Seine Gedanken waren bei seinem toten Sohn.
Doch am Tag der Beerdigung fielen ihm die Worte des Arztes wieder ein. Nebeneinander standen er und Agnes am offenen Grab ihres Kindes. Jeden seiner Versuche, sie zu trösten, beendete Agnes mit abwehrendem Schweigen. An dem Tag, an dem sie Wilhelm tot in seiner Wiege vorgefunden hatte, schien sie das Reden für immer eingestellt zu haben. Die Speisen, die Grete mit besonderer Hingabe für sie kochte, ließ sie unangerührt in die Küche zurückgehen. An Getränken nippte sie wie ein Spatz. Auch ihr eigener Lebenswille schien geschwunden zu sein.
*
Die Worte des Predigers flogen an Friedrichs Ohren vorbei. In der kleinen Holzkiste neben dem offenen Grab lag sein Sohn. Wer tröstete ihn darüber hinweg, dass er nun nicht miterleben würde, wie Wilhelm zum Jungen und später zum Mann heranwuchs? Dass er mit ihm nicht über die Felder reiten würde, die eigentlich sein Eigentum werden sollten.
Wer half ihm in diesem Schmerz?
Friedrichs Seele schrie nach Trost. Er drohte, an seinen ungeweinten Tränen zu ersticken. Hinter ihm bei dem übrigen Gesinde stand auch Maribel. Sie hatte seine Nähe gesucht, doch er durfte sie nicht an sich heranlassen. Wer sagte ihm, dass Gott ihn nicht für seine Liebe zu ihr strafte?
Mit Maribel hatte er seine Frau betrogen. Er hatte sie begehrt, obwohl Agnes nur wenige Schritte von ihnen entfernt in ihrem Zimmer schlief.
Nun büßte er mit dem Tod seines einzigen Kindes für seine
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