Verlieb dich nie nach Mitternacht
zögerte Maribel. Die Luft zwischen ihnen war wie elektrisiert. Sie sah ihn an und nahm doch keine Einzelheiten wahr. Sie spürte nichts als diese überwältigende Anziehungskraft, die von ihm ausging. Es wäre so einfach gewesen, ihr nachzugeben, sich ihm an die Brust zu werfen, die Arme um seinen Hals zu schlingen, sein Gesicht mit tausend Küssen zu bedecken.
Doch mit aller Kraft stemmte sie sich innerlich dagegen. Es war unmöglich, dass sie für einen anderen Mann als Boris eine derartige Leidenschaft empfinden konnte.
»Ich lasse mich nicht erpressen. Weder von dir noch von einem anderen.« Wütend über ihre widersprüchlichen Gefühle riss sie sich von ihm los.
»Und wenn ich dir helfe, die Zeitschwelle zu finden?«, hörte sie hinter sich seine leise Stimme.
Maribel wirbelte zu ihm herum, dass die Röcke flogen. Doch Andrej wandte ihr bereits den Rücken zu, um von einem Kurier eine weitere Nachricht seines Vorgesetzten zu empfangen. Hinter der Scheibe des Küchenfensters machte Grete Maribel ein Zeichen, ins Haus zurückzukommen.
*
»Wie geht es meiner Frau?« Den Tag über hatte Friedrich draußen verbracht. Die Felder mussten neu abgegrenzt, die Zäune repariert und das Saatgut für das neue Jahr bestimmt werden. Seine erste Frage galt Lisette, die ihm begegnete, als er das Haus betrat.
Lisette deutete einen Knicks an. Sie fühlte sich entsetzlich elend. Ihre Monatsblutung war seit Wochen überfällig. Wie lange genau, hatte sie nicht gezählt. Inständig hoffte sie, nicht schwanger zu sein. Doch ihre schwellenden, schmerzenden Brüste sprachen ihre eigene Sprache. Noch hatte sie nicht gewagt, Heinrich in ihr Geheimnis einzuweihen. Sie war liebeslustig, aber nicht skrupellos. Und vor allem war sie sich nicht sicher, ob Heinrich wirklich der Vater ihres heranwachsenden Kindes war.
»Unverändert, gnädiger Herr«, beantwortete sie Friedrichs Frage. »Die gnädige Frau sitzt am Fenster und sieht hinaus. Immer in dieselbe Richtung.«
Lisette musste nicht deutlicher werden. Friedrich wusste auch so, dass Agnes ihren Blick fest auf den Friedhof gerichtet hielt, der von ihrem Fenster aus nur zu erahnen war.
»Danke, Lisette.« Mit verschlossener Miene eilte er an ihr vorbei die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo die einzigen Privaträume lagen, die ihnen nach der Einquartierung der russischen und preußischen Truppen noch geblieben waren. So konnte es nicht weitergehen. Irgendwie musste es ihm gelingen, die Mauer, die Agnes um sich errichtet hatte, zum Einsturz zu bringen.
Mit plötzlichem Elan nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Ohne anzuklopfen, betrat er das Zimmer seiner Frau. Wie Lisette gesagt hatte, saß Agnes in ihrem Sessel und starrte hinaus in die einsetzende Dämmerung.
Friedrich trat ans Fenster, energisch zog er die Vorhänge zu.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er ohne Umschweife. Er rechnete nicht mit einer Antwort, deshalb sprach er rasch weiter.
»Du weißt wie ich, Agnes, dass Ehen bei uns auf dem Lande nicht aus Liebe geschlossen werden. Bei uns war es nicht anders. Doch wir haben uns stets respektiert. Du warst mir eine aufrichtige und gute Gefährtin. Als unser Sohn geboren wurde, schien der Grundstein für eine neue Generation gelegt zu sein. Für unsere gemeinsame Familie. Ich habe mich gefreut.«
Eine einzelne Träne lief ihr die Wange hinunter. Er bemerkte es und schöpfte Hoffnung.
»Dann kam Wilhelm, ein Junge. Mein Lebenstraum schien sich zu erfüllen. Ich sah uns bereits nebeneinander über die Felder reiten, habe ihn als Haupterben in mein Testament aufgenommen.« Er schwieg, um die Tränen hinunterzuschlucken, die auch ihm in der Kehle brannten. Agnes schloss müde die Augen.
»Das Unglück, das uns mit dem Tod unseres Sohnes getroffen hat, kann keiner von uns ungeschehen machen«, fuhr er endlich fort. »Aber wir können seinen Tod als den Auftrag an uns verstehen, einen neuen Anfang zu wagen, Agnes, nur wir zwei. Wir werden noch viele Kinder bekommen. Du bist jung. Was sollte uns daran hindern, eine Familie zu gründen, wie wir es uns immer gewünscht haben? Agnes, Liebes.«
Er hatte noch nie »Liebes« zu ihr gesagt. Auch jetzt fiel es ihm schwer, das Wort über die Lippen zu bringen. Doch er wollte, dass sie an einen neuen Anfang glauben konnte. Er wünschte es sich von ganzem Herzen.
Friedrich fiel vor seiner Frau auf die Knie und griff nach ihrer Hand, die kraftlos herunterhing. Sie fühlte sich kalt an.
Agnes behielt die Augen
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