Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
Masse, die sie umhüllt und verbirgt, ebensosehr wie die Masse ihrer bedarf.
    Aus einem Brief vom Oktober 1937
    S ie nennen mich eine Säule, caro amico, und ich komme mir eher wie ein halb zerfaserter, überanstrengter Strick vor, an dem viele Gewichte hängen, und der bei jedem neu dazukommenden Gewicht das Gefühl hat: Jetzt wird es bald krachen. Indessen spüre ich dennoch, was Sie vermutlich mit der Säule meinen. Sie spüren in mir etwas wie einen Glauben, etwas was mich hält, eine Erbschaft von Christentum teils, teils Humanität, die nicht bloß anerzogen und nicht bloß intellektuell fundiert ist. Damit hat es seine Richtigkeit, nur könnte ich meinen Glauben nicht formulieren, je länger, je weniger. Ich glaube an den Menschen als an eine wunderbare Möglichkeit, die auch im größten Dreck nicht erlischt und ihm aus der größten Entartung zurückzuhelfen vermag, und ich glaube, diese Möglichkeit ist so stark und so verlockend, daß sie immer wieder als Hoffnung und als Forderung spürbar wird, und die Kraft, die den Menschen von seinen höhern Möglichkeiten träumen läßt und ihn immer wieder vom Tierischen wegführt, ist wohl immer dieselbe, einerlei ob sie heut Religion, morgen Vernunft und übermorgen wieder anders genannt wird. Das Schwingen, das Hin und Her zwischen dem realen Menschen und dem möglichen, dem erträumbaren Menschen ist dasselbe, was die Religionen als Beziehung zwischen Mensch und Gott auffassen.
    Dieser Glaube an die Menschen, das heißt daran, daß der Sinn für Wahrheit, das Bedürfnis nach Ordnung dem Menschen innewohnt und nicht umzubringen ist,
     hält mich über Wasser. Ich sehe im übrigen die heutige Welt wie ein Irrenhaus und ein schlechtes Sensationsstück an, oft bis zum tiefsten Ekel
     degoutiert, aber doch so wie man Irre und Besoffene ansieht, mit dem Gefühl: wie werden die sich schämen, wenn sie eines Tages wieder zu sich kommen
     sollten!
    Aus einem Brief vom 10. Juli 1938
    D er Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrer Weisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben. Was die Menschen jeweils unter dem Begriff »Mensch« verstehen, ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewußtsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der »Mensch« dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiß, ein schüchterner und naivschlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er »Persönlichkeit« nennt, liefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch »Staat« aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.
    Aus »Der Steppenwolf«, 1925-1927
    D u hast recht, daß wir gegen den Staat und ähnliche Mächte wehrlos sind. Aber Du hast nach meiner Meinung
     vollkommen unrecht, wenn Du daraus den Schluß ziehst, wir müßten darauf antworten, indem wir »skrupellos« uns wehren. Gerade das dürfen wir nicht:
     über die Welt schimpfen, weil sie skrupellos ist und selber ebenso skrupellos sein. Grade das ist unser Vorrecht und unser Adel, daß wir Skrupel
     haben, daß wir nicht alles für erlaubt halten, daß wir das Hassen und Töten und alle übrige Sauerei nicht auch noch mitmachen. Hier fängt jede
     Kultur an, jede Beseelung des an sich viehischen Lebens, auch jede Möglichkeit zur Kunst, zur Religion, zu allem geistigen Wert. Die ruppige Gebärde
     des »Ich scheiße auf das alles« ist nicht erst von Euch erfunden worden, sie ist in der Geschichte schon hundertmal dagewesen, man kann sie dulden,
     man kann sie verstehen als Reaktion schwacher und unerzogener Menschen auf grausame Übermacht – aber billigen und richtig finden kann man sie
     nicht.
    Aus einem Brief an seinen Sohn Heiner vom Januar 1933
    D ie Gewalt

Weitere Kostenlose Bücher