Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
wächst und der immerhin zu den besseren Erzeugnissen der Menschheit gehört. Dieser Humor, von
Leidenden dazu erfunden, damit sie das mühsame Leben dennoch ertragen und sogar lobpreisen können, wirkt nun auf jene anderen, Gesunden, nicht
Leidenden drolligerweise stets wie das Gegenteil, wie der Ausbruch einer ganz unbändigen Lebenslust und Lustigkeit, die Gesunden klatschen sich
dabei auf die Schenkel und wiehern und sind dann immer verdutzt und ein wenig beleidigt, wenn sie von Zeit zu Zeit Nachrichten lesen wie diese,
daß der sehr beliebte und erfolgreiche Komiker X. sich unbegreiflicherweise in einem Anfall von Schwermut ertränkt habe.
Aus »Die Nürnberger Reise«, 1925
G egen Dummheit hat der um einen Grad Klügere keine andere Waffe als den Humor.
Aus einem Brief vom Juli 1950
Der Hanswurst
I n Singapore besuchte ich wieder einmal ein malayisches Theater. Ich tat es längst nicht mehr in der Hoffnung, hier etwas von Kunst und Volkstum der Malayen zu sehen oder sonst wertvolle Studien machen zu können, sondern lediglich in behaglicher Abendstimmung, wie man an einem müßigen Abend in einer fremden Seestadt nach dem Essen und Kaffee Lust bekommt, in ein VarietØ zu gehen.
Die sehr geschickten Schauspieler, deren einer einen Europäer zu spielen hatte, stellten eine moderne Ehegeschichte aus Batavia dar, die ein Stückefabrikant auf Grund von Zeitungs- und Gerichtsnachrichten dramatisiert hatte. Die Gesangseinlagen mit Begleitung eines alten Klaviers, dreier Geigen, eines Basses, eines Horns und einer Klarinette waren von rührender Komik. Unter den Frauen eine wunderschöne junge Malayin, wohl Javanin, mit hinreißend edlem Gang.
Das Merkwürdige aber war eine magere junge Schauspielerin in der seltsamen Rolle eines weiblichen Hanswurst. Die sehr sensible, überintelligente, allen andern unendlich überlegene Frau stak in einem schwarzen Sack, trug über ihrem schwarzen Haar eine fahlblonde scheußliche Wergperücke und hatte das Gesicht mit Kalk beschmiert, auf der rechten Wange einen großen schwarzen Klecks. In dieser toll-häßlichen Bettelmaske bewegte sich die nervös geschmeidige Person in einer Nebenrolle, die zum Stück nur äußerst flüchtige Beziehungen hatte, und war doch beständig auf der Bühne; denn sie spielte den vulgären Hanswurst. Sie grinste und fraß auf affenhafte Art Bananen, sie belästigte Mitspieler und Orchester, unterbrach die Handlung durch Witze oder begleitete sie stumm mit parodierender Nachäffung; dann wieder saß sie zehn Minuten lang teilnahmslos auf dem Fußboden, hielt die Arme verschränkt und blickte mit gleichgültigen, krankhaft klugen, kalt überlegenen Augen ins Leere oder fixierte uns Zuschauer der vordersten Reihe mit kühler Kritik. In dieser Abseitigkeit sah sie nicht mehr grotesk aus, eher tragisch, der schmale, brennend rote Mund teilnahmlos ruhend, vom vielen Lachen ermüdet, die kühlen Augen aus dem fratzenhaft bemalten Gesicht traurig, vereinsamt und erwartungslos blickend. Man hätte mit ihr reden mögen wie mit einem Shakespeareschen Narren oder wie mit Hamlet. Bis die Gebärde irgendeines Mitspielers sie reizte – dann stand sie auf, von Leben durchflossen, und parodierte diese Gebärde mit dem kleinsten Aufwande an Anstrengung in so hoffnungslos vernichtender Übertreibung, daß die Mitspieler hätten verzweifeln müssen.
Aber diese geniale Frau war nur Hanswurst: sie durfte nicht italienische Arien singen wie ihre Kolleginnen, sie trug das schwarze Kleid der
Erniedrigung, und ihr Name stand weder auf dem englischen noch auf dem malayischen Theaterzettel.
1911
Höhe des Sommers
D as Blau der Ferne klärt sich schon
Vergeistigt: und gelichtet
Zu jenem süßen Zauberton,
Den nur September dichtet.
Der reife Sommer über Nacht
Will sich zum Feste färben,
Da alles in Vollendung lacht
Und willig ist zu sterben.
Entreiß dich, Seele, nun der Zeit,
Entreiß dich deinen Sorgen
Und mache dich zum Flug bereit
In den ersehnten Morgen.
Juli 1933
Geheimnisse
H ie und da fühlt der Dichter, und vermutlich auch mancher andre Mensch, das Bedürfnis, sich für eine Stunde von den Vereinfachungen, Systemen, Abstraktionen und andern Halb- oder Ganzlügen abzuwenden und die Welt so zu betrachten wie sie wirklich ist, also nicht als ein zwar kompliziertes, aber schließlich doch übersehbares und verstehbares System von Begriffen, sondern als den Urwald von schönen und schauerlichen, immer neuen, vollkommen unverstehbaren
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