Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
allerdings weniger als jemals, und man schießt denn auch die Menschen, deren jeder ein kostbarer, einmaliger Versuch der Natur ist, zu Mengen tot. Wären wir nicht noch mehr als einmalige Menschen, könnte man jeden von uns wirklich mit einer Flintenkugel ganz und gar aus der Welt schaffen, so hätte es keinen Sinn mehr, Geschichten zu erzählen. Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt . . .
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er
selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim
und Eischalen einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. Mancher ist
oben Mensch und unten Fisch. Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle
kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen;
aber deuten kann jeder nur sich selbst.
Aus »Demian«, 1917
Sprache
D ie Sonne spricht zu uns mit Licht,
Mit Duft und Farbe spricht die Blume,
Mit Wolken, Schnee und Regen spricht
Die Luft. Es lebt im Heiligtume
Der Welt ein unstillbarer Drang,
Der Dinge Stummheit zu durchbrechen,
In Wort, Gebärde, Farbe, Klang
Des Seins Geheimnis auszusprechen.
Hier strömt der Künste lichter Quell,
Es ringt nach Wort, nach Offenbarung,
Nach Geist die Welt und kündet hell
Aus Menschenlippen ewige Erfahrung.
Nach Sprache sehnt sich alles Leben,
In Wort und Zahl, in Farbe, Linie, Ton
Beschwört sich unser dumpfes Streben
Und baut des Sinnes immer höhern Thron.
In einer Blume Rot und Blau,
In eines Dichters Worte wendet
Nach innen sich der Schöpfung Bau,
Der stets beginnt und niemals endet.
Und wo sich Wort und Ton gesellt,
Wo Lied erklingt, Kunst sich entfaltet,
Wird jedesmal der Sinn der Welt,
Des ganzen Daseins neu gestaltet,
Und jedes Lied und jedes Buch
Und jedes Bild ist ein Enthüllen,
Ein neuer, tausendster Versuch,
Des Lebens Einheit zu erfüllen.
In diese Einheit einzugehn,
Lockt euch die Dichtung, die Musik,
Der Schöpfung Vielfalt zu verstehn,
Genügt ein einziger Spiegelblick.
Was uns Verworrenes begegnet,
Wird klar und einfach im Gedicht:
Die Blume lacht, die Wolke regnet,
Die Welt hat Sinn, das Stumme spricht.
3. Februar 1928
D er Dichter, dem Sie eine Erkenntnis oder Erweckung verdanken, ist weder ein Licht noch ein Fackelträger, er ist bestenfalls ein Fenster, durch welches das Licht zum Leser gelangen kann, und sein Verdienst hat mit Heldentum, edlem Wollen und idealen Programmen nicht das mindeste zu tun; sein Verdienst kann lediglich darin bestehen, daß er Fenster ist, daß er dem Licht nicht im Wege steht, sich ihm nicht verschließt. Hat er den glühenden Wunsch, ein überaus edler Mann und ein Wohltäter der Menschheit zu werden, so ist es sehr wohl möglich, daß gerade dieser Wunsch ihn zu Fall bringt und ihn hindert, das Licht durchzulassen. Was ihn leitet und antreibt, darf weder Hochmut noch angestrengtes Streben nach Demut sein, sondern einzig die Liebe zum Licht, das Offenstehen für die Wirklichkeit, die Durchlässigkeit für das Wahre.
Aus einem Brief von 1947
M eine Dichtung und Person hat Ihnen eine Zeitlang gedient und Sie eine Weile gefördert. Das ist kein Grund, sie nicht beiseite zu legen und sich von ihr abzuwenden, sobald Ihre Entwicklung es verlangt . . . Auch ich war einmal in meinem Leben genötigt, meine ganze stille, beschauliche Philosophie wegzuwerfen und mich bis zum Verbluten an den Tag hinzugeben. Das war, als der Krieg kam, und für nahezu zehn Jahre war der Protest gegen den Krieg, der Protest gegen die rohe, blutsaufende Dummheit der Menschen, der Protest gegen die »Geistigen«, namentlich die den Krieg predigten, für mich Pflicht und bittre Notwendigkeit. Ich bin
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