Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
sehr getäuscht haben? Sollte er nicht am Ende gerade das Lebendigste, das Feinste, das Wesentlichste und Innerste dieser Zeit mit seinem rohen Wort verworfen haben?
Völlig falsch jedenfalls war die Meinung, die man während des Krieges oft äußern hörte: dieser Krieg sei schon durch seinen bloßen Umfang, seine gräßliche Riesenmechanik geeignet, künftige Generationen vom Kriege abzuschrecken. Abschrecken ist kein Erziehungsmittel. Wem das Töten Spaß macht, dem wird es durch keinen Krieg verleidet. Auch die Einsicht in den materiellen Schaden, den der Krieg anrichtet, wird gar nichts helfen. Die Handlungen der Menschen entspringen kaum zu einem Hundertstel rationalen Erwägungen. Man kann völlig von der Unsinnigkeit irgendeines Tuns überzeugt sein und es dennoch inbrünstig tun. Jeder Leidenschaftliche tut so. –
Eben darum bin ich auch nicht Pazifist, wie viele meiner Freunde und Feinde meinen. Ich glaube an die Herbeiführung des Weltfriedens auf rationalem Wege, durch Predigt, Organisation und Propaganda, so wenig wie an die Entdeckung des Steins der Weisen durch Chemikerkongresse.
Woher aber wird vielleicht doch einst die wahre Friedfertigkeit auf Erden kommen? Nicht von Geboten und nicht aus materiellen Erfahrungen. Sie kommt, wie jeder Menschenfortschritt, aus der Erkenntnis. Alle Erkenntnis aber wenn man darunter etwas Lebendiges und nicht Akademisches versteht, hat nur einen Gegenstand. Es wird von Tausenden und tausendfach anerkannt und in tausend verschiedenen Arten ausgedrückt, ist aber stets nur eine Wahrheit. Es ist die Erkenntnis des Lebendigen in uns, in jedem von uns, in mir und dir, des geheimen Zaubers, der geheimen Göttlichkeit, die jeder von uns in sich trägt. Es ist die Erkenntnis von der Möglichkeit, von diesem innersten Punkte aus alle Gegensatzpaare zu jeder Stunde aufzuheben, alles Weiß in Schwarz, alles Böse in Gut, alle Nacht in Tag zu verwandeln. Der Inder sagt »Atman«, der Chinese sagt »Tao«, der Christ sagt »Gnade«. Wo jene höchste Erkenntnis da ist (wie bei Jesus, bei Buddha, bei Plato, bei Lao Tse), da wird eine Schwelle überschritten, hinter der die Wunder beginnen. Da hört Krieg und Feindschaft auf. Man kann davon im Neuen Testament und in den Reden Gotamas lesen, und wer will, kann auch darüber lachen und es »Verinnerlichungsrummel« heißen. Wer es erlebt, dem wird der Feind zum Bruder, der Tod zur Geburt, die Schmach zur Ehre, Unglück zu Schicksal. Jedes Ding auf Erden zeigt sich doppelt, einmal als »von dieser Welt« und einmal als »nicht von dieser Welt«. »Diese Welt« aber bedeutet, was »außer uns« ist. Alles, was außer uns ist, kann Feind, kann Gefahr, kann Angst und Tod werden. Mit der Erfahrung, daß all dies »Äußere« nicht nur Gegenstand unserer Wahrnehmung, sondern zugleich Schöpfung unserer Seele ist, mit der Verwandlung des Äußeren in das Innere, der Welt in das Ich, beginnt das Tagen.
Ich sage Selbstverständlichkeiten. Aber wie jeder totgeschossene Soldat die ewige Wiederholung eines Irrtums ist, so wird auch die Wahrheit, in tausend
Formen, ewig und immer wiederholt werden müssen.
1918
E s ist das Schicksal mancher Menschen, daß sie das Leben im ganzen als Leid und Schmerz empfinden, nicht
bloß in der Idee, in irgendeinem literarisch-ästhetischen Pessimismus, sondern körperlich und wirklich. Diese Menschen, zu denen ich leider zähle,
haben mehr Talent zum Empfinden von Schmerzen als zum Empfinden von Lust, das Atmen und Schlafen, Essen und Verdauen und alle einfachsten
animalischen Verrichtungen machen ihnen eher Schmerz und Mühe als Vergnügen. Da sie nun aber trotzdem, einem Willen der Natur folgend, den Trieb
in sich fühlen, das Leben zu bejahen, die Schmerzen gut zu finden, die Flinte nicht ins Korn zu werfen, sind diese Menschen ungewöhnlich versessen
auf alles, was ein wenig Freude machen, ein wenig erheitern, ein wenig beglücken und wärmen kann, und legen all diesen hübschen Dingen einen Wert
bei, den sie für gewöhnliche, gesunde, normale und arbeitstüchtige Menschen nicht haben. Die Natur bringt auf diesem Wege sogar etwas höchst
Schönes und Kompliziertes zuwege, wovor fast alle Menschen einen gewissen Respekt haben: den Humor. In jenen leidenden Menschen nämlich, in jenen
allzu weichen, allzu wenig smarten, allzu vergnügungssüchtigen, auf Trost erpichten Menschen entsteht gelegentlich das, was man Humor nennt, ein
Kristall, der nur in tiefen und dauernden Schmerzen
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