Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Unerbittlichen gegenüberzustellen und ihm für eine Weile alle Ordnung, alles Behagen, alle Sicherheit, allen Glauben, alles Wissen fragwürdig zu machen.
Genug davon, jeder kennt das, jeder weiß, wie es damit beschaffen ist, auch wenn er nur einmal oder nur wenige Male vom Erlebnis gestreift worden ist und es fertig gebracht zu haben meint, das Erlebnis glücklich zu vergessen. Das Erlebnis wird aber nie vergessen, und wenn das Bewußtsein es zudeckt, Philosophie oder Glaube es weglügt, das Gehirn sich seiner entledigt, so wird es im Blut, in der Leber, in der großen Zehe sich verbergen, und unfehlbar eines Tages sich wieder in seiner völligen Frische und Unvergeßbarkeit erweisen. Ich möchte im weiteren nicht über das Wirkliche, über den Urwald der Geheimnisse, über das Numinose und andre Namen des Erlebnisses philosophieren, dies ist der Beruf anderer Leute, denn es ist dem Menschengeist, dem klugen, nicht genug zu bewundernden, auch dies gelungen: aus dem schlechthin Unverstehbaren, Einmaligen, Dämonischen, Unerträglichen eine Philosophie mit Systemen, Professoren und Autoren zu machen. Hier bin ich nicht zuständig und habe nicht einmal vermocht, die Spezialisten des Lebensrätsels wirklich zu lesen. Ich möchte nur, weil es so will, weil die Stunde mich dazu anhält, aus dem Alltag meines Berufs ohne Tendenz und Ordnung einiges über das Verhältnis des Dichters zu den Lebenslügen aufzeichnen, und auch über das Wetterleuchten des Geheimnisses durch die Wände dieser Lügen hindurch. Ich füge hinzu: der Dichter als solcher steht dem Weltgeheimnis um nichts näher als jeder andre Mensch, er kann sowenig wie andre leben und arbeiten, ohne einen Boden unter sich und ein Dach über sich zu haben, und um sein Bett ein dichtes Mückennetz von Systemen, Konventionen, Abstraktionen, Vereinfachungen und Verflachungen zu spannen. Auch er, genau wie die Zeitung, schafft sich aus dem donnernden Dunkel der Welt eine Ordnung und Landkarte, lebt lieber im Flachen als im Vieldimensionalen, hört lieber Musik als Bombenexplosionen, und wendet sich mit dem, was er schreibt, an seine Leser meistens durchaus mit der wohlgepflegten Illusion, es bestehe eine Norm, eine Sprache, ein System, das es ihm ermögliche, seine Gedanken und Erlebnisse so mitzuteilen, daß der Leser sie gewissermaßen miterleben und sich tatsächlich aneignen könne. Für gewöhnlich tut er wie alle tun, er treibt sein Metier so gut er kann, und hütet sich darüber nachzudenken, wieweit wohl der Boden trage, auf dem er steht, wieweit die Leser tatsächlich seine Gedanken und Erlebnisse aufnehmen, nachfühlen und teilen können, wieweit seinem Glauben, seinem Weltbild, seiner Moral, seiner Denkart die des Lesers ähnlich sei. Neulich wurde ich von einem jungen Mann, der mir schrieb, als »alt und weise« angesprochen. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, schrieb er, »denn ich weiß, daß Sie alt und weise sind.« Ich hatte gerade einen etwas helleren Moment und nahm den Brief, der übrigens hundert anderen von anderen Leuten sehr ähnlich war, nicht in Bausch und Bogen, sondern fischte erst da und dort einen Satz, ein paar Worte heraus, betrachtete sie möglichst genau und befragte sie um ihr Wesen. »Alt und weise«, stand da, und das konnte freilich einen müde und mürrisch gewordenen alten Mann zum Lachen reizen, der in seinem langen und reichen Leben der Weisheit sehr oft unendlich viel näher zu sein geglaubt hatte als jetzt in seinem reduzierten und wenig erfreulichen Zustand. Alt, ja, das war ich, das stimmte, alt und verbraucht, enttäuscht und müde. Und doch konnte ja auch das Wort »alt« ganz anderes ausdrücken! Wenn man von alten Sagen, alten Häusern und Städten, alten Bäumen, alten Gemeinschaften, alten Kulten sprach, so war mit dem »alt« durchaus nichts Entwertendes, Spöttisches oder Verächtliches gemeint. Also auch die Qualitäten des Alters konnte ich nur sehr teilweise für mich in Anspruch nehmen; ich war geneigt, von den vielen Bedeutungen des Wortes nur die negative Hälfte gelten zu lassen und auf mich anzuwenden. Nun, für den jungen Briefschreiber mochte das Wort »alt« meinetwegen auch einen malerischen, graubärtigen, milde lächelnden, einen teils rührenden, teils ehrwürdigen Wert und Sinn haben; wenigstens hatte es diesen Nebensinn für mich in den Zeiten, da ich selbst noch nicht alt war, stets gehabt. Also gut, man konnte das Wort gelten lassen, verstehen und als Anrede würdigen.
Nun aber das Wort
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