Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Geheimnissen, die sie ist. Wir sehen jeden Tag zum Beispiel das sogenannte Weltgeschehen in der Zeitung dargestellt, flach, übersehbar, auf zwei Dimensionen reduziert, von den Spannungen zwischen Ost und West bis zur Untersuchung des japanischen Kriegspotentials, von der Kurve des Index bis zur Versicherung eines Ministers, daß gerade die ungeheure Dynamik und Gefährlichkeit der neuesten Kriegswaffen dazu führen müsse, diese Waffen niederzulegen oder in Pflugscharen zu verwandeln, und obwohl wir wissen, daß dies alles keine Wirklichkeiten sind, sondern teils Lügen, teils fachmännische Jonglierspiele mit einer amüsanten, erfundenen, unverantwortlichen Surrealisten-Sprache, so macht uns dies täglich wiederholte Weltbild, auch wenn es sich von einem Tag zum andern noch so kraß widerspricht, doch jedesmal wieder ein gewisses Vergnügen oder gibt uns eine gewisse Beruhigung, denn für einen Augenblick scheint in der Tat die Welt flach, übersehbar und geheimnislos zu sein und sich jeder Erklärung, die den Wünschen des Abonnenten entgegenkommt, willig zu fügen. Und die Zeitung ist ja auch nur eines von tausend Beispielen, sie hat weder die Entwirklichung der Welt und die Abschaffung der Geheimnisse erfunden, noch ist sie deren einziger Praktikant und Nutznießer. Nein, so wie der Abonnent, wenn er die Zeitung überflogen hat, für einen Augenblick die Illusion genießt, er wisse nun in der Welt für vierundzwanzig Stunden Bescheid und es sei im Grunde nichts passiert, als was kluge Redakteure schon in der Donnerstagsnummer teilweise vorausgesagt hätten, ganz ebenso malt und lügt sich jeder von uns jeden Tag und jede Stunde den Urwald der Geheimnisse in einen hübschen Garten oder in eine flache, übersichtliche Landkarte um, der Moralist mit Hilfe seiner Maximen, der Religiöse mit Hilfe seines Glaubens, der Ingenieur mit Hilfe seiner Rechenschieber, der Maler mit Hilfe seiner Palette und der Dichter mit Hilfe seiner Vorbilder und Ideale, und jeder von uns lebt so lange leidlich zufrieden und beruhigt in seiner Scheinwelt und auf seiner Landkarte weiter, als er nicht durch irgendeinen Dammbruch oder irgendeine schreckliche Erleuchtung plötzlich die Wirklichkeit, das Ungeheure, schrecklich Schöne, schrecklich Grausige, auf sich einstürzen und sich von ihm ausweglos umarmt und tödlich gepackt fühlt.
Dieser Zustand, diese Erleuchtung oder Erweckung, dieses Leben in der nackten Wirklichkeit dauert niemals lang, es trägt den Tod in sich, es dauert jedesmal, wenn ein Mensch von ihm ergriffen und in den furchtbaren Wirbel gestürzt wird, genau so lange, als ein Mensch es eben ertragen kann, und dann endet es entweder mit dem Tode oder mit der atemlosen Flucht ins Nichtwirkliche, ins Erträgliche, Geordnete, Übersehbare zurück. In dieser erträglichen, lauen, geordneten Zone der Begriffe, der Systeme, der Dogmatiken, der Allegorien leben wir neun Zehntel unsres Lebens. So lebt der kleine Mann zufrieden, ruhig und geordnet, wenn auch vielleicht viel schimpfend, in seinem Häuschen oder seiner Etage, über sich ein Dach, unter sich einen Boden, unter sich ferner ein Wissen von der Vergangenheit, von seiner Herkunft, seinen Ahnen, die beinahe alle so waren und lebten wie er selber, und über sich außerdem noch eine Ordnung, einen Staat, ein Gesetz, ein Recht, eine Wehrmacht – bis das alles plötzlich in einem Augenblick verschwunden und zerrissen ist, Dach und Fußboden zu Donner und Feuer geworden sind, Ordnung und Recht zu Untergang und Chaos, Ruhe und Behagen zu würgender Todesdrohung, bis die ganze so althergebrachte, so ehrwürdige und zuverlässige Scheinwelt in Flammen und Scherben zerborsten und nichts mehr da ist als das Ungeheure, die Wirklichkeit. Man kann es Gott nennen, das Ungeheure und Unverstehbare, das Schreckliche und durch seine Wirklichkeit so dringlich Überzeugende, aber es ist mit dem Namen auch nichts an Verständnis, an Erklärbarkeit und Ertragbarkeit gewonnen. Die Erkenntnis der Wirklichkeit, die immer nur eine momentane ist, kann durch den Bombenhagel eines Krieges bewirkt werden, durch jene Waffen also, die nach den Worten manches Ministers gerade durch ihre Furchtbarkeit uns einmal nötigen werden, sie in Pflugscharen zu verwandeln; für den Einzelnen genügt oft eine Krankheit, ein in seiner nächsten Nähe geschehenes Unglück, zuweilen aber auch schon eine momentane Lagerung seiner Lebensstimmung, ein Erwachen aus schwerem Alptraum, eine schlaflose Nacht, um ihn dem
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