Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
»weise«! Ja, was sollte das eigentlich bedeuten? Wenn das, was es bedeuten sollte, ein Nichts war, etwas Allgemeines, Verschwommenes, ein gebräuchliches Epitheton, eine Phrase, nun dann konnte man es überhaupt weglassen. Und wenn es das nicht war, wenn es wirklich etwas bedeuten sollte, wie sollte ich hinter diese Bedeutung kommen? Ich erinnerte mich einer alten, von mir oft angewandten Methode, an die des freien Assoziierens. Ich ruhte mich ein wenig aus, spazierte ein paarmal durchs Zimmer, sagte mir noch einmal das Wort »weise« vor und wartete, was mir als erstes dazu einfallen werde. Siehe da, als Einfall meldete sich ein anderes Wort, das Wort Sokrates. Das war immerhin etwas, es war nicht bloß ein Wort, es war ein Name, und hinter dem Namen stand nicht eine Abstraktion, sondern eine Gestalt, ein Mensch. Was nun hatte der dünne Begriff Weisheit mit dem saftigen, sehr realen Namen Sokrates zu tun? Das war leicht festzustellen. Weisheit war diejenige Eigenschaft, welche von den Schul- und Hochschullehrern, von den vor überfülltem Saale vortragenden Prominenten, von den Autoren der Leitartikel und Feuilletons dem Sokrates unweigerlich als erste zugesprochen wurde, sobald sie auf ihn zu sprechen kamen. Der weise Sokrates. Die Weisheit des Sokrates – oder, wie der prominente Vortragende sagen würde: die Weisheit eines Sokrates. Mehr war über diese Weisheit nicht zu sagen. Wohl aber meldete sich, kaum hatte man die Phrase gehört, eine Realität, eine Wahrheit, nämlich der wirkliche Sokrates, eine trotz aller Legendendrapierung recht kräftige, recht überzeugende Gestalt. Und diese Gestalt, dieser athenische alte Mann mit dem guten häßlichen Gesicht hatte über seine eigene Weisheit ganz unmißverständliche Auskunft gegeben, er hatte sich kräftig und ausdrücklich dazu bekannt, daß er nichts, absolut nichts wisse, und auf das Prädikat Weisheit keinerlei Anspruch habe.
Da war ich nun wieder einmal vom graden Wege abgeirrt und in die Nähe der Wirklichkeiten und der Geheimnisse geraten. So war es: ließ man sich je einmal dazu verführen, es mit den Gedanken und den Worten richtig ernst zu nehmen, dann stand man gleich im Leeren, im Ungewissen, im Finstern. Wenn die Welt der Gelehrten, der Schönredner, der Vortragskünstler, der Katheder und Essays recht hatte, dann war er ein vollkommen Unwissender, ein Mann, der erstens nichts wußte und an kein Wissen und Wissenkönnen glaubte, und der zweitens gerade aus dem Nichtwissen und dem Nichtglauben an das Wissen seine Stärke, sein Instrument zur Befragung der Wirklichkeit machte.
Da stand ich alter weiser Mann denn vor dem alten unweisen Sokrates und hatte mich zu wehren oder zu schämen. Zum Schämen war mehr als genug Ursache; denn ungeachtet aller Schliche und Spitzfindigkeiten wußte ich ja recht wohl, daß der Jüngling, der mich als Weisen ansprach, dies keineswegs nur aus eigener Torheit und jugendlicher Ahnungslosigkeit heraus tat, sondern daß ich ihm dazu Anlaß gegeben, ihn dazu verführt, dazu halb und halb ermächtigt hatte durch manche meiner dichterischen Worte, in denen etwas wie Erfahrung und Nachgedachthaben, etwas wie Lehre und Altersweisheit spürbar wird, und wenn ich auch, glaube ich, die meisten meiner dichterisch formulierten »Weisheiten« nachher wieder in Anführungszeichen gesetzt, angezweifelt, ja umgestoßen und widerrufen hatte, so hatte ich doch, alles in allem, in meinem ganzen Leben und Tun mehr bejaht als verneint, mehr zugestimmt oder doch geschwiegen als gekämpft, hatte oft genug den Traditionen des Geistes, des Glaubens, der Sprache, der Sitte Reverenz erwiesen. In meinen Schriften war zwar unleugbar da und dort ein Wetterleuchten zu spüren, ein Riß in den Wolken und Draperien der hergebrachten Altarbilder, ein Riß, hinter dem es bedrohlich apokalyptisch geisterte, es war da und dort angedeutet, daß des Menschen sicherster Besitz seine Armut, des Menschen eigentlichstes Brot sein Hunger sei; aber alles in allem hatte ich, gerade so wie alle andern Menschen auch, mich lieber den schönen Formwelten und Traditionen zugewandt, hatte die Gärten der Sonaten, Fugen, Symphonien allen apokalyptischen Feuerhimmeln und die zauberhaften Spiele und Tröstungen der Sprache allen Erlebnissen vorgezogen, in denen die Sprache aufhört und zu nichts wird, weil für einen schrecklich-schönen, vielleicht seligen, vielleicht tödlichen Augenblick das Unsagbare, Undenkbare, das nur als Geheimnis und Verwundung zu erlebende
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