Verliebt in einen Gentleman
zu lassen.
Sicher ist es eine besonders glückliche Fügung, dass ich Alice in der Bahn begegnet bin.
Als ich mein kaltes, spießiges Schlafzimmer betrete mit dem Küchenkrepp-isolierten Fenster und dem unmöglichen Bettüberwurf, denke ich, dass jeder mir beipflichten würde, der sähe, unter welchen Bedingungen ich hier untergebracht bin.
Bald sitze ich mit den Lanes an ihrem Campingtisch, esse ein Stück von Abbys – zugegebenermaßen – unerreichtem „Angel Food“ Kuchen und nippe an meiner heißen Teetasse. Die beiden hängen an meinen Lippen und wollen alles, aber auch alles von mir wissen. Es ist mir ein bisschen zu viel. Ich bin von der Reise müde. Mein Kopf beginnt, wieder zu schmerzen.
„War dein Quartier tatsächlich so schlimm, wie wir befürchtet haben?“, fragt Abby.
Ich nicke. „Noch viel schlimmer. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Schmutz und Unordnung gesehen.“
Abby sieht sich in ihrem tadellos geputzten Wohnzimmer um und sagt zufrieden: „Wie furchtbar.“
Glen räuspert sich umständlich und fragt: „Und wie war es mit dem jungen Mann?“
„Ja“, fällt Abby ein, „hat er sich dir in irgendeiner Form genähert?“
Mir bleibt fast die Spucke weg. Die beiden sind lieb und wohlmeinend, zugegeben, aber sie kennen keine Zurückhaltung. Am Ende wollen sie noch wissen, ob ich mit Ethan ins Bett gestiegen sei.
Ethan. Ich muss an seinen Rat denken, dass ich lieber Ausschau nach einer neuen Unterkunft halten solle. Allmählich begreife ich, dass er hundertprozentig recht hatte.
Ich stelle meine Tasse auf den Campingtisch und sage: „Seid mir nicht böse, aber ich glaube, ich gehe jetzt schlafen.“
„Tu das, Schatz“, sagt Abby. „Ich finde sowieso, dass du sehr blass aussiehst. Mir scheint, dir ist Cambridge nicht gut bekommen. Bestimmt waren dort Schimmelsporen in der Kammer. Gut, dass du wieder bei uns bist.“
„Wieder bei uns“. Früher hätte ich mir bei dieser Redewendung nichts weiter gedacht, aber nun habe ich das Gefühl, als würde Abby damit ein unsichtbares Netz um mich werfen, dessen Maschen sich immer enger und fester ziehen.
Auf der Treppe hoch zu meinem Zimmer sage ich mir, dass ich mich wie eine Pubertierende fühle, die beginnt, sich gegen ihr Elternhaus aufzulehnen. Dabei hatte ich das daheim alles schon längst hinter mich gebracht!
Ich werde nach oben durch den Lärm des Fernsehers verfolgt, dessen Ton die Lanes sofort auf volle Lautstärke gedreht haben, sobald ich das Zimmer verlassen hatte. Die mittlerweile überaus vertraute Melodie von „Crossroads“ dröhnt durch das Haus.
In meinem Zimmer schlägt mir die kalte Luft entgegen. Ich lege mich auf mein Bett, ziehe den Stapel Wolldecken über mich und sehe zu, wie mein Atem kleine Wölkchen produziert, bevor ich nach meinem Buch greife und noch ein bisschen lese. Es ist ganz seltsam. Vor Kurzem war dieses Häuschen noch zu einem richtigen „home away from home“ für mich geworden – ein angenehmes und gemütliches Ersatzzuhause. Jetzt bin ich von einer seltsamen Unruhe erfasst. Ich kann es kaum erwarten, hier auszuziehen und mich auf etwas Neues einzulassen.
Am nächsten Morgen schlafe ich noch tief und fest, als die Tür zu meinem Zimmer gnadenlos aufgerissen wird. Abby marschiert herein, setzt die obligatorische Teetasse klirrend auf den Nachttisch, geht zum Fenster und reißt den Vorhang zurück.
„Guten Morgen, Schatz“, trompetet sie, „heute geht es dir wieder besser als in Cambridge. Hier kriegst du wieder deinen Tee ans Bett. Gut, nicht?“
Ich denke insgeheim, dass sie mit Sicherheit nicht wissen will, wie ich das finde, nämlich grauenhaft. Wie gerne hätte ich noch ein Stündchen geschlafen! Besonders, da der Blick durch das Fenster einen schrecklichen Regentag offenbart.
Abby sagt: „Glen wird sich
freuen, dass es so schüttet. Sein Garten war knochentrocken.“
Dann zwinkert sie mir zu und verlässt das Zimmer wieder.
Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und fluche leise vor mich hin. Wenn ich einmal wach bin, kann ich immer nicht mehr einschlafen. Resigniert setze ich mich auf und greife nach der Tasse. Erst als der wirklich sehr würzige englische Tee meinen Magen trifft, bekomme ich wieder versöhnliche Gedanken bezüglich Abby und ihrer Marotten.
Was macht man nur an einem grauen regnerischen Herbsttag, wenn der Geliebte weit weg ist, die Freunde alle verreist, der einzige Rückzugort ungeheizt, und man mehr Freizeit hat, als einem recht ist?
Ich ziehe
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