Verliebt in einen Gentleman
Quartier ansehe?
Auf den Straßen von Gatingstone ist absolut gar nichts los. Alle befinden sich in ihren Häusern und sehen vermutlich fern. Man kann das bläuliche Licht der Bildschirme durch manche Gardinen flimmern sehen. Die Kirchturmglocke schlägt in die verträumte Stille hinein. Ganz gelegentlich fährt ein Auto an mir vorbei. Ein Geruch nach Kohl und Gebratenem liegt in der Luft. Wieder knurrt mein Magen.
Ich kenne den Weg in die Weaver's Mews ganz gut. Wenn man von den Seafields zur Schule ging, kam man direkt an der Einfahrt zu der kleinen Wohnstraße vorbei. Darinnen reihen sich mehrere nette, adrette Häuschen aneinander. Sie sehen neu aus, ahmen aber den Stil der älteren Dorfhäuser geschmackvoll nach. Ich finde Alices Haus schnell – es ist das zweite Haus rechts. Eine Kletterrose umrankt ein kleines Vordach. Unter dem einladenden Licht der Türlampe hängt ein getöpfertes Schild, auf dem in schnörkliger Schrift „Rose Cottage“ steht.
Ich muss nur kurz auf einen blanken Messingknopf drücken, der einen wohlklingenden Gong auslöst, da hört man schon Absätze zur Haustür klappern.
Alice öffnet die Tür. Sie trägt ein wallendes graues Kleid, das geschickt ihre Rundungen verhüllt, mit einem Muster aus rosa Blüten, ein bisschen wie mein Laura Ashley Kleid aus Cambridge.
„Guten Abend, Lea“, begrüßt sie mich, „wie schön, dass du tatsächlich zu mir kommst! Komm schnell herein und hänge deinen Mantel an die Garderobe.“
Ich registriere, dass sie nach einem sehr teuren Parfum riecht, vermutlich aus ihrem Laden in London, denke ich.
Alice führt mich vom Eingangsflur zum Wohnzimmer durch. Es ist nicht groß, aber wieder sehr geschmackvoll eingerichtet – ganz wie das Wohnzimmer einer alleinstehenden Dame mit gehobenen Ansprüchen. Ein zart-grüner Teppichboden mit kurzem Flor reicht von Wand zu Wand. Darauf stehen in lockerer Anordnung ein Sofa und zwei Sessel, die mit einem rosa-grünen Blumenstoff bezogen sind. Das Grün im Polsterstoff ist perfekt auf die Farbe des Teppichbodens abgestimmt. Es gibt ein, zwei niedrige Beistell-Tische aus Edelholz, auf denen silberne Bilderrahmen und Kerzenleuchter stehen.
An der Wand hängen hübsche Stiche – vermutlich Landschaftsszenen aus Essex.
In einer Ecke des Raumes steht ein runder Tisch mit einer makellosen weißen Tischdecke. Darauf stehen Geschirr und Besteck bereit.
„Ich habe uns nur eine Kleinigkeit zum Abendessen vorbereitet – ich hoffe, dass du noch nichts gegessen hast?“, fragt meine liebenswürdige Gastgeberin, die mir noch viel liebenswürdiger vorkommt, als sie zur Küche eilt und mit einer duftenden Quiche zurückkommt, die sie mit Topflappen herein trägt.
„Ganz im Gegenteil“, sage ich und spüre, wie mir das Wasser im Mund zusammen läuft.
Während Alice uns jedem ein Stück von der herrlich duftenden Pastete auftut und uns in die hohen Weingläser einen Bordeaux eingießt, sehe ich mich mit großen Augen um. Dies ist so ganz etwas Anderes, als das enge, heiße Wohnzimmer der Lanes mit seinem dröhnenden Fernseher. Alles atmet Ruhe, Geschmack und Behaglichkeit aus. Die Szene spiegelt sich in den großen Sprossenfenstern, hinter denen vermutlich der Garten liegt. Im Hintergrund klimpert Barockmusik von einer CD. Es klingt nach Vivaldi.
Ohne nachzudenken sage ich: „Du hast gar keinen Fernseher.“
Alice sagt: „Doch, aber der ist in meinem kleinen Büro oben im ersten Stock. Ein Fernseher ist so etwas Hässliches, nicht wahr? Er würde die Atmosphäre hier unten stören.“
Oh ja, denke ich, ein Fernseher kann die Atmosphäre so etwas von stören.
Davon kann ich ein Liedchen singen.
„Leider ist Maura heute Abend nicht da“, sagt Alice. „Es wäre nett gewesen, wenn ihr beide euch kennengelernt hättet.“
„Ach, ist sie schon ausgezogen?“
„So gut wie. Sie hat einen Freund, derentwegen sie zurück nach Irland zieht. Ach, was sage ich“, seufzt Alice jetzt, „er ist ein schrecklicher Kerl. Irgendwie ist Maura ganz verändert, seit sie mit ihm zusammen ist. Früher war sie so ein liebes Mädchen; ordentlich, höflich, freundlich. Seitdem sie mit diesem Ron zusammen ist, ist sie wie ausgewechselt. Sie ist mürrisch und launisch. Sie macht sich irgendwelche Marmeladenbrote und kleckert damit herum. Neulich hat sie das ganze Treppengeländer mit Marmelade eingeklebt. Ich habe sie gebeten, die Schmiererei zu entfernen, aber als nach drei Tagen immer noch nichts geschehen war, musste ich selber
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