Verliebt und zugenäht!: Roman (German Edition)
einmal ein Viertel des Textes aufsagen, geschweige denn spielen.
In ihrer Not fiel Emma nur noch die Großmutter ein. Zum Glück war sie abends immer zu Hause, sodass man auch ohne Voranmeldung jederzeit vorbeikommen konnte.
»Das schaffen wir schon«, meinte Fanny beruhigend, »wir haben ja noch den ganzen Abend Zeit.«
Und schon kam ihrer Enkelin alles nicht mehr so schlimm vor. Sie holte die Textseiten aus der Tasche und breitete sie vor der Großmutter aus.
»Welcher Dialog fällt dir denn leichter? Mit dem fangen wir an«, schlug Fanny vor.
Emma tippte auf den kürzeren, der eine Art Liebesszene war. Der andere dagegen erzählte einen großen Krach zwischen Mutter und Tochter, der vom Wut- bis zum Tränenausbruch alles beinhaltete. Das wollte sie sich lieber für später aufheben. Wenn sie sich etwas warm gespielt hatte, sozusagen …
»Wir dürfen das nicht«, begann Fanny etwas hölzern zu lesen, »ich bin nicht frei.«
»Aber du willst es doch auch«, antwortete ihre Enkelin nicht weniger steif. »Hör einfach auf dein Herz und folge ihm.«
»Das werde ich nicht tun«, erwiderte die Großmutter und konnte sich nur mühsam das Lachen verbeißen, »das steht nämlich erst vier Sätze später.«
»Mist, was kommt denn dann nach ›du willst es doch auch‹?«
»Sei ehrlich zu dir und kämpfe nicht gegen deine Gefühle.«
»Das ist doch eigentlich dasselbe.« Emma hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie bis morgen alle Sätze in der richtigen Reihenfolge und mit dem entsprechenden Pathos draufhaben sollte.
Doch wie durch ein Wunder konnte sie nach einer guten Stunde mit Großmutters Hilfe die gesamte Szene in- und auswendig.
»Hör einfach auf dein Herz und folge ihm«, hauchte sie ihrer Oma ins Ohr, die wiederum ergriffen antwortete: »Was soll daran einfach sein, wenn mein Kopf einen ganz anderen Weg für mich vorgesehen hat?«
»Aber so wirst du nie glücklich werden«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück, worauf Fanny mit dem bedeutungsschweren Satz antwortete: »Das Glück ist sowieso nur eine Stecknadel im Heuhaufen.« Stolz klatschten die beiden Frauen ihre Handflächen gegeneinander und nahmen sich sofort die nächste Szene vor.
Da wurde es schon ein wenig schwieriger. Deutlich mehr und vor allem emotionalere Dialoge waren nun zu bewältigen. Emma hätte am liebsten schon gleich die Flinte ins Korn geworfen, aber Fanny beharrte darauf, den Text mit verteilten Rollen zu sprechen.
»Diese Szene ist wie für uns gemacht«, meinte sie euphorisch. »Mutter und Tochter – da kann man sich doch viel leichter hineinversetzen. Wirst schon sehen. Auf geht’s!«
Dagegen konnte sich ihre Enkelin wohl kaum wehren und fügte sich. Außerdem war ihr natürlich klar, dass sie am nächsten Tag nicht mit bloß einer einzigen vorbereiteten Szene beim Casting erscheinen durfte.
»Wie konntest du mir das nur antun?«, las sie also mit wenig Pathos von ihrem Blatt ab und reichte es dann der Großmutter.
»Was habe ich dir schon angetan? Schließlich hast du dein ganzes Leben lang keine Rücksicht auf mich genommen.« Auch Fannys Satz kam noch nicht besonders emotional daher.
»Wie kannst du so etwas sagen? Immerhin habe ich deine Ausschweifungen über Jahre finanziert. Aber jetzt kann ich nicht mehr!«
»Ach, sie kann nicht mehr! Und ich? Wie es mir damit geht, fragt auch niemand.«
»Dann mach doch endlich eine Entziehungskur. Und jammer nicht dauernd nur herum!«
Irgendwie fühlte es sich schon komisch an, der Großmutter so harte Sätze an den Kopf zu werfen, auch wenn das, was sie sagte, noch lange nicht wirklich wütend klang. Aber damit durfte eine Schauspielerin wahrscheinlich keine Probleme haben. Daran musste sie also auch noch arbeiten.
»So, jetzt sind wir einmal durch. Noch zwei Durchläufe für die Textsicherheit und dann endlich mit mehr Wut im Bauch«, kommandierte Fanny und hörte sich schon an wie ein richtiger Regisseur.
Hoch konzentriert sagten sie die Szene zweimal auf, ohne dass Emma auf das Textblatt schauen durfte. Und je sicherer sie die Dialoge sprach, desto mehr Emotionen waren in ihrer Stimme zu hören. Auch die Großmutter hatte jetzt offensichtlich Spaß daran bekommen, mit ihrer Enkelin diesen Streit möglichst realitätsnah darzustellen.
»Was habe ich dir schon angetan? Schließlich hast du dein ganzes Leben lang keine Rücksicht auf mich genommen«, schrie sie sie beim nächsten Mal an und bekam einen roten Kopf wie sonst nur im Streit mit Herrn
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