Verliebt, verlobt, verflucht
sie hatte sich zu früh gefreut. Kreischend alarmierte Ariane den Professor und lenkte obendrein die Aufmerksamkeit der anderen Schüler auf Natalie: »Professor, Professor, Natalie schaut mitten in der Prüfung in ihren Spiegel, ist das nicht ein bisschen auffällig? Vielleicht spickt sie ja gerade!«
Rund fünfzig Augenpaare stierten Natalie neugierig an. Hastig legte sie den Spiegel weg, zog ein verlegendes Grinsen und tat so, als ob sie ihre nicht vorhandene Frisur richten würde.
Es dauerte keine zehn Sekunden und Professor Marzin stand vor Natalies Pult, doch die verräterische Textstelle verschwand augenblicklich, als ob der Spiegel die Gefahr wittern würde. Was für feine Sachen doch ihr Vater in seinem Krimskramsladen hatte, dachte Natalie mit diebischer Freude, als der Professor ihr den Spiegel aus der Hand riss.
»Frisch ertappt«, blaffte er, sichtlich hocherfreut und mit einem rachsüchtigen Glitzern in den Augen.
»Aber Professor Marzin, was denken Sie denn von mir?«, verteidigte sich Natalie und setzte eine Unschuldsmiene auf. Die anderen Schüler grinsten und widmeten sich wieder dem Test, während Ariane ungläubig aufschnaubte.
»Nanu«, murmelte der Professor verwundert und betrachtete verdutzt sein Spiegelbild, das ihm sein ausgemergeltes Gesicht mit der Adlernase in der Mitte zeigte. Unwillkürlich fasste er sich an die Nase, wie um sich zu vergewissern, dass der große Zinken im Spiegel tatsächlich der seine war. Doch einen Hinweis auf einen Spicker konnte er auch nicht durch Schütteln, Murmeln, Fluchen und Händefuchteln finden.
»Der Spiegel wird konfisziert«, zischte Professor Marzin. »Während des Tests in den Spiegel zu schauen, ist in der Tat mehr als verdächtig!« Hinter seinem Rücken nickte Ariane heftig.
Natalie drehte sich zu Gingin um, die zwei Bankreihen hinter ihr saß. Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf die mannsgroße Sanduhr vorne am Pult. Jede Sekunde fiel ein goldenes Sandkorn, groß wie eine Haselnuss, in den unteren Behälter. Und in dem unteren Behälter sammelte sich bereits über die Hälfte der Sandkörner. Natalie wurde nervös, sie hätte nicht so lange herumtrödeln dürfen. Jetzt musste sie sich wohl oder übel durch den restlichen Test raten. Natalie las die ersten Fragen durch und versuchte sich etwas aus der Nase zu ziehen.
Eifrig schreib sie mit ihrer Schwanenfederspitze auf das Pergamentpapier und fabrizierte dabei einen hässlichen Tintenklecks.
»Mist«, entfuhrt es ihr leise.
Sie hob ihren Kopf und blickte sich im Klassenzimmer suchend nach Warenis um. Ganz vorne, am Lehrerpult, saß die kleine Elfe und gähnte verdrossen. Natalie schnippte mit den Fingern. Sogleich stieß sich die kleine Elfe mit ihren zarten Füßen vom Schreibpult des Professors ab und schwirrte zu Natalie. Ihre silbernen Flügel schlugen dabei schneller und sanfter als die von Schmetterlingen.
»Hast du schon wieder gekleckst?«, fragte sie Natalie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Hautfarbe war gänzlich blaugrün, das Kleid dagegen tulpenrot. Über den krausen Haaren hatte sie einen Kastanienhut gestülpt, dennoch lugten ihre spitzen Ohren hervor.
»Mach schon, ich hab nicht mehr viel Zeit«, flüsterte Natalie und warf einen ungeduldigen Blick auf die Sanduhr.
Warenis tat, wie ihr befohlen, spazierte barfuß über den Klecks und saugte dabei die Tinte mit ihren Fußsohlen auf. Für einen kurzen Augenblick verfärbte sich Warenis tintenblau, ehe sie wieder ihre gewöhnliche Hautfarbe annahm.
»Bei dir muss ich am meisten arbeiten, ich hoffe doch, ich erhalte bald wieder eine Dose Blütenstaub aus dem Laden deines Vaters«, krakeelte sie.
»Ja, demnächst«, sagte Natalie ungeduldig und scheuchte die kleine Elfe davon, um sich den restlichen Fragen zu widmen.
Warum wurde die Stadtmauer vor 600 Jahren erhöht?
Hey, das ist ja einfach, jubelte Natalie im Stillen und kritzelte eifrig mit ihrer Schwanenfeder:
Im 4. Jahrhundert drangen Spione aus dem Reich der Hochelben ein und stahlen etwas von unschätzbarem Wert. Damit dies nicht noch einmal geschieht, wurde die Mauer erhöht.
Natalie las ihren Satz noch einmal durch. Keine Ahnung, ob dies tatsächlich stimmte, dachte sie. Sie hatte die Information nicht aus ihrem Geschichtsbuch, sondern aus einer Erzählung ihres verstorbenen Großvaters. Aber hatten nicht alle überlieferten Sagen einen wahren Kern?
Ihr Großvater hatte sein Leben als Wächter der Stadtmauer verbracht und kannte viele solcher
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