Verliere nicht dein Gesicht
kannte. Die anderen Uglies starrten sie neidisch an, aber niemand sah irgendeinen Grund, sich mit ihr anzufreunden. Wahrscheinlich war es besser, die Operation am Stück hinter sich zu bringen. Sehr oft wünschte sie sich, mitten in der Nacht von den Ärzten entführt zu werden. Sie konnte sich schlimmere Dinge vorstellen, als eines Morgens hübsch aufzuwachen. In der Schule hieß es, dass die Operation auch schon bei Fünfzehnjährigen durchgeführt werden konnte. Dass sie ein Jahr länger warten mussten, sei nur eine blödsinnige alte Tradition.
Aber es war eine Tradition, die niemand in Frage stellte, mit Ausnahme von ein paar Uglies. Also blieb Tally eine Woche, in der sie allein warten musste.
Shay hatte seit dem Streit nicht mehr mit ihr gesprochen. Tally hatte versucht ihr ein Ping zu schreiben, aber als sie dann vor dem Bildschirm saß, war sie nur wieder wütend geworden. Und es brachte ja auch nicht viel, jetzt an einer Versöhnung zu arbeiten. Wenn sie erst hübsch wären, würde es keinen Grund mehr zu irgendeinem Streit geben. Und selbst wenn Shay sie dann noch immer hasste, wären doch Peris und all ihre alten Freunde da, die auf dem anderen Flussufer mit ihren großen Augen und ihrem wundervollen Lächeln auf sie warteten.
Aber trotzdem überlegte Tally sich immer wieder, wie Shay als Pretty aussehen würde, wenn sie nicht mehr nur Haut und Knochen wäre, wenn ihre bereits vollen Lippen perfekt wären und die abgeknabberten Fingernägel für immer verschwunden. Sie würden ihren Augen vermutlich ein tieferes Grün geben. Oder vielleicht eine der neueren Farben, Violett, Silber oder Gold.
"He, Scheelauge!"
Tally fuhr zusammen, als sie das Flüstern hörte. Sie lugte in die Dunkelheit und sah eine Gestalt, die über die Dachziegel auf sie zuschlich. Ihr Gesicht öffnete sich zu einem Lächeln. "Shay!" Die Gestalt hielt für einen Moment inne.
Tally machte sich nicht einmal die Mühe zu flüstern. "Steh doch nicht so rum. Komm rein, du Dussel."
Shay kroch durch das Fenster und lachte, als Tally sie in eine warme, glückliche und energische Umarmung zog. Sie traten zurück und hielten einander noch immer an den Händen. Für einen Moment sah Shays hässliches Gesicht perfekt aus.
"Es ist so toll, dich zu sehen."
"Dich auch, Tally."
"Du hast mir gefehlt. Ich wollte - es tut mir so leid ..."
"Nein", fiel Shay ihr ins Wort. "Du hattest Recht. Du hast mich zum Nachdenken gebracht. Ich wollte dir schreiben, aber das wurde so ..." Sie seufzte.
Tally nickte und drückte Shays Hände. "Ja. Das klappt nie."
Sie schwiegen einen Moment und Tally schaute an ihrer Freundin vorbei aus dem Fenster. Plötzlich machte der Anblick von New Pretty Town sie nicht mehr so traurig. Die Stadt sah hell und verlockend aus und Tally schien all ihre Skepsis verloren zu haben. Das offene Fenster kam ihr jetzt wieder aufregend vor. "Shay?"
"Ja?"
"Lass uns heute Abend irgendwo hingehen. Noch einen Superstreich spielen."
Shay lachte. "Ich hatte irgendwie gehofft, dass du das sagst."
Tally fiel auf, wie Shay angezogen war. Sie trug echte Streichekluft: ganz in Schwarz, die Haare zurückgebunden, einen Rucksack über der einen Schulter. Tally grinste. "Du hast schon einen Plan, wie ich sehe. Klasse."
"Ja", sagte Shay leise. "Ich habe einen Plan."
Sie ging zu Tallys Bett hinüber und streifte den Rucksack ab. Ihre Schritte quietschten und Tally lächelte, als sie sah, dass Shay Griffschuhe trug. Tally hatte seit Tagen auf keinem Hubbrett mehr gestanden. Allein zu fliegen war harte Arbeit und nur das halbe Vergnügen.
Shay ließ den Inhalt ihres Rucksacks auf das Bett fallen und zeigte darauf. "Positionsfinder. Feuerzünder. Wasserreiniger." Sie hob zwei dünne Rollen von Butterbrotgröße hoch. "Die lassen sich zu Schlafsäcken auseinanderziehen. Und sie halten wirklich warm."
"Schlafsäcke? Wasserreiniger?", rief Tally. "Das muss ja ein wahnsinniger, tagelanger Streich sein. Wollen wir ans Meer oder was?"
Shay schüttelte den Kopf. "Weiter."
"He, klasse." Tally hielt an ihrem Lächeln fest. "Aber bis zur Operation sind es nur sechs Tage."
"Ich weiß, welcher Tag heute ist." Shay öffnete einen wasserdichten Sack und verteilte dessen Inhalt neben den anderen Gegenständen. "Essen für zwei Wochen - dehydriert. Du lässt einfach eins davon in den Reiniger fallen und gibst Wasser dazu. Egal, was für Wasser." Sie kicherte. "Der Reiniger ist so
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