Verliere nicht dein Gesicht
einprogrammiert worden, dass alles andere hässlich ist."
"Das ist nicht einprogrammiert, das ist eine natürliche Reaktion. Und was noch wichtiger ist, es ist fair. In den alten Zeiten war alles ein Zufall - manche Leute waren halbwegs hübsch, die meisten Leute waren ihr Leben lang hässlich. Jetzt sind alle hässlich ... bis sie hübsch werden. Es gibt keine Verlierer."
Shay schwieg eine Weile, dann sagte sie: "Es gibt Verlierer, Tally."
Tally zitterte. Alle wussten von lebenslänglichen Uglies, den wenigen, bei denen die Operation nicht geklappt hatte. Sie waren aber nicht oft zu sehen. Sie durften sich zwar in der Öffentlichkeit bewegen, die meisten versteckten sich aber lieber. Und wem würde es anders gehen? Die Uglies sahen vielleicht übel aus, aber sie waren doch immerhin noch jung. Alte Uglies dagegen waren einfach unerträglich.
"Geht es darum? Hast du Angst, dass die Operation nicht klappt? Das ist Unsinn, Shay. Du bist doch ganz normal. In zwei Wochen wirst du so hübsch sein wie alle anderen."
"Ich will nicht hübsch sein."
Tally seufzte. Jetzt ging das wieder los.
"Ich hab diese Stadt satt", sagte Shay. "Ich habe die Regeln und Vorschriften satt. Das Letzte, was ich will, ist eine neue Pretty mit Spatzenhirn zu werden, die den ganzen Tag Party machen muss."
"Hör doch auf, Shay. Sie machen genau das, was wir auch tun: Bungeespringen, fliegen, mit Feuerwerk spielen. Nur brauchen sie nicht herumzuschleichen."
"Sie haben nicht genug Fantasie, um herumzuschleichen."
"Hör mal, Skelett, ich weiß ja, was du meinst", sagte Tally mit scharfer Stimme. "Es macht Spaß, solche Streiche zu spielen. Okay? Es macht Spaß, gegen die Regeln zu verstoßen. Aber irgendwann musst du etwas anderes machen, statt nur eine clevere kleine Ugly zu sein."
"Dann lieber eine langweilige Pretty mit Spatzenhirn?"
"Nein, eine Erwachsene. Hast du dir je überlegt, dass du als Pretty vielleicht keine Streiche spielen und keinen Unfug anstellen musst? Vielleicht hacken die Uglies immer aufeinander herum, weil sie eben hässlich sind, weil sie sich so wenig wohl in ihrer Haut fühlen. Also, ich will glücklich sein, und auszusehen wie ein echter Mensch ist dazu der erste Schritt."
"Ich habe keine Angst davor, so auszusehen, wie ich aussehe, Tally."
"Vielleicht nicht, aber du hast Angst davor, erwachsen zu werden."
Shay antwortete nicht. Tally trieb schweigend weiter, sie schaute zum Himmel hoch und konnte vor Zorn die Wolken kaum sehen. Sie wollte hübsch sein, sie wollte Peris wiedersehen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie mit ihm gesprochen hatte, oder mit überhaupt irgendwem außer Shay. Sie hatte diese ganze blöde Wartezeit satt und sehnte deren Ende herbei.
Gleich darauf hörte sie Shay zum Ufer schwimmen.
Der letzte Streich
Es war seltsam, aber Tally war wirklich traurig. Sie wusste, dass ihr der Blick aus diesem Fenster fehlen würde.
Sie hatte die letzten vier Jahre damit verbracht, zu New Pretty Town hinüberzublicken und sich nichts sehnlicher zu wünschen, als den Fluss zu überqueren und niemals zurückkehren zu müssen. Das hatte sie vermutlich dazu veranlasst, so oft aus dem Fenster zu klettern und jeden Trick zu lernen, mit dem sie dichter an die neuen Pretties herankam, um sich das Leben anzusehen, dass sie später dann auch führen würde.
Aber jetzt, wo die Operation nur noch eine Woche vor ihr lag, schien die Zeit zu schnell zu vergehen. Manchmal wünschte Tally sich, die Operation könnte nach und nach vorgenommen werden. Zuerst ihre schielenden Augen, dann die Lippen, ein schrittweises Überqueren des Flusses. Einfach, damit sie nicht zum letzten Mal aus diesem Fenster schauen und wissen müsste, dass sie diesen Anblick niemals wieder sehen würde.
Ohne Shay kam ihr alles unvollkommen vor und so hatte sie sogar noch mehr Zeit hier verbracht, hatte auf ihrem Bett gesessen und nach New Pretty Town hinübergeschaut.
Natürlich gab es sonst nicht viel zu tun. Alle anderen im Haus waren jetzt jünger als Tally und sie hatte dem nächsten Jahrgang schon ihre besten Tricks beigebracht. Sie hatte an die zehnmal jeden Film gesehen, den ihr Bildschirm auf Lager hatte, bis zurück den alten schwarzweißen, deren Englisch sie nur mit Mühe verstehen konnte. Sie hatte jetzt niemanden mehr, mit dem sie Konzerte besuchen konnte, und die Sportveranstaltungen des Hauses waren langweilig, weil sie keinen in den Teams
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