Verliere nicht dein Gesicht
Uglies seid so ... unfähig!"
"Na, wenn du vielleicht..."
Noch ehe sie es gesagt hatte, spürte sie, wie der Druck um ihre Handgelenke verschwand. Sie hob die Hände und rieb ihre Schultern. "Ach, danke."
"Hör mal", sagte er und die Rasierklingen in seiner grausamen Stimme waren schärfer denn je. "Ich will dir ja nicht wehtun, aber ..."
"Wenn es sein muss, wirst du es tun." Tally lächelte. Er stand genau an der richtigen Stelle.
"Tu einfach, was Dr. Cable will. Und wag ja nicht, eins von diesen Hubbrettern anzufassen."
"Keine Sorge, ist gar nicht nötig", sagte sie und schnippte, so laut sie konnte, mit den Fingern beider Hände.
Croys Hubbrett flog hoch und schlug die Füße des Specials unter ihm weg.
Der Mann stolperte wieder vom Dach und Tally sprang auf das Brett.
Flucht
Tally war noch nie barfuß auf einem Hubbrett unterwegs gewesen. Junge Smokies veranstalteten alle Arten von Wettrennen, sie trugen Gewichte oder flogen zu zweit, aber so blöd waren sie doch nie.
Bei der ersten Kurve wäre Tally fast vom Brett gefallen, sie jagte über einen neuen Pfad, den sie erst vor wenigen Tagen aus Altmetall angelegt hatten. Als das Brett einen Ruck machte, rutschten Tallys schmutzige Füße über die Oberfläche und ließen sie eine halbe Drehung beschreiben. Sie fuchtelte wild mit den Armen, aber auf irgendeine Weise konnte sie den Halt bewahren und schoss nun über die Einfriedung und über den Ka- ninchenstall.
Jubelrufe wurden laut, als die Gefangenen unten sie vorbeifliegen sahen und erfassten, dass irgendwer hier einen Fluchtversuch unternahm. Tally war zu sehr damit beschäftigt, sich auf dem Brett zu halten, um nach unten zu schauen.
Als sie ihr Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, wurde Tally klar, dass sie ihre Auffangarmbänder nicht trug. Und jeder Sturz hier würde gefährlich sein. Ihre Zehen klammerten sich an das Brett und sie schwor sich, die nächste Kurve sanfter anzugehen. Wenn der Himmel an diesem Morgen bewölkt gewesen wäre, hätte die Sonne Croys Brett noch nicht vom Tau befreit. Und dann läge Tally jetzt wie ein hilfloses Bündel im Kaninchenstall vermutlich mit gebrochenem Rückgrat. Es war ein Glück,
dass sie, wie die meisten jungen Smokies, auch im Schlaf den Bauchsensor trug.
Schon hörte sie hinter sich das Heulen von startenden Hubwagen.
Tally kannte nur zwei Hubbrettwege, die aus Smoke hinausführten. Instinktiv steuerte sie die Eisenbahnlinie an, an der sie jeden Tag gearbeitet hatte. Das Tal fiel hinter ihr ab und sie schaffte die enge Kurve auf das wilde Wasser, ohne vom Brett zu fallen. Ohne Rucksack und ohne die schweren Armbänder kam Tally sich fast nackt vor.
Croys Brett war nicht so schnell wie ihres und es kannte ihren Flugstil nicht. Darauf zu fliegen war, wie neue Schuhe einzulaufen – während sie um ihr Leben rannte.
Über dem Wasser traf Gischt ihr Gesicht, ihre Hände und ihre Füße. Tally kniete nieder, packte die Kante des Brettes mit feuchten Fingern und flog so tief, wie sie es nur wagte. Dort unten würde die Gischt das Fliegen noch schwieriger machen, aber dort würde sie auch von den Bäumen versteckt werden. Sie sagte es, sich umzuschauen. Noch war kein Hubwagen zu sehen.
Als sie den kurvenreichen Bach entlangschoss und um die vertrauten Kurven jagte, dachte Tally daran, wie oft sie und David und Shay auf dem Weg zur Arbeit Wettrennen veranstaltet hatten. Sie hätte gern gewusst, wo David war. In der Siedlung, gefesselt und kurz vor dem Abstransport in eine Stadt, die er noch nie gesehen hatte? Würden sie jetzt sein Gesicht zurechtfeilen und durch eine hübsche Maske ersetzen? Würden sie sein Gehirn in eine weiche, unkritische Masse verwandeln, in etwas, das die Behörden für einen in der Wildnis aufgewachsenen Abtrünnigen für angebracht hielten?
Sie schüttelte den Kopf, um dieses Bild zu verdrängen. Sie hatte David zwischen den Gefangenen nicht gesehen. Wenn er gefasst worden wäre, hätte er sich vorher ganz bestimmt gewehrt. Also musste er entkommen sein.
Über ihr flog ein dröhnender Hubwagen dahin, und die durch seinen Wind entstandene Welle hätte Tally fast vom Brett gespült. Einige Sekunden darauf wusste sie, dass der Wagen sie entdeckt hatte, denn seine kreischende Drehung hallte im Wind wider, während er zum Bach zurückkehrte.
Schatten jagten über Tally hinweg und sie schaute hoch und sah zwei Hubwagen, die sie verfolgten, ihre
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