Verlockend untot
anderen Dinge auf der Instrumententafel des Lokomotivführers.
Es gab ziemlich viele Anzeigen, aber keine, die in einem warnenden Rot leuchteten und mit dem hilfreichen Hinweis ANHALTEN markiert waren. Und ich konnte nicht einfach nach draußen springen und mir Mircea schnappen, denn mein zusätzliches Gewicht hätte uns beide auf die Schienen geworfen.
Stattdessen schnappte ich mir den Lokomotivführer.
»Wie hält man dieses Ding an?«, fragte ich, und seine Antwort bestand aus einem ausdruckslosen Blick.
Ich schüttelte ihn, als Mircea langsamer wurde oder wir schneller und ihn nur noch wenige Zentimeter von der Zerschredderung trennten. Das Schütteln des Lokomotivführers brachte mich nicht weiter, und deshalb schlug ich ihn, was sich als falscher Schachzug erwies, denn es weckte ihn zwar aus seiner Starre, aber plötzlich heulte er wie am Spieß. Ich fluchte hingebungsvoll, sah mich ohne Zeit und ohne Ideen um und bemerkte einen schwebenden Koffer.
Er hatte mich in den Zug begleitet, vielleicht weil ich auf ihm gesessen hatte. Er war alt und zerkratzt, sah wie etwas aus, das aus einer anderen Epoche stammte. Doch der Zauber, den ihm der Magier gegeben hatte, schien noch immer gut zu funktionieren und machte ihn zu einer Art Lebensretter.
Ich klemmte ihn mir unter den Arm, sprang nach draußen und packte Mircea mit der freien Hand. Ein oder zwei Sekunden taumelte er nur eine Haaresbreite vor hundert Tonnen rasendem Metall, dann landeten wir in einem Haufen aus Armen und Beinen in der Kabine, die ich gerade verlassen hatte. Als Bonus brachten wir den Lokomotivführer zu Fall, der gerade ins nächste Abteil rennen wollte.
Mircea packte ihn, zog ihn zu sich herab und zeigte dabei nicht unbedingt die eigentlich für ihn typische Gelassenheit. »Vergiss«, wies er ihn scharf an, und sofort beruhigte sich der Mann. Fügsam und sanftmütig nahm er in seinem Sessel Platz und blickte verwundert in die leere Teetasse, als wir uns aufrappelten.
»Entschuldigung«, sagte ich noch einmal zu Mircea, und er lächelte grimmig.
»Reden wir später darüber«, erwiderte er ein wenig unheilvoll.
»Zunächst einmal, wo sind sie?«
»Hier entlang«, sagte ich, und wir liefen los.
Sechsunddreißig
Eigentlich hätte es ganz einfach sein sollen, sie zu finden, aber der allgemeine Weihnachtstrubel wollte, dass sich im nächsten Waggon mindestens zweihundert Passagiere zusammendrängten, mit Einkaufstüten, Pa-keten und einem Burschen, der einen ganzen Weihnachtsbaum umarmte. Dadurch roch es nach Fichtennadeln, was ganz nett gewesen wäre, wenn ich davon nicht Heuschnupfen bekommen hätte. Ich hielt nach meiner Mutter Ausschau, strich mir Zweige aus dem Gesicht und nieste immer wieder.
»Sind sie noch einmal gesprungen?«, fragte Mircea, als wir durch die Menge pflügten, uns durch die Tür zwängten und den nächsten Waggon erreichten. Einige Fahrgäste sahen uns an, als hätten wir den Verstand verloren, denn der Bereich zwischen den Waggons war recht offen.
Ich hätte ihnen gern gesagt, dass sie es einmal mit der Kabine ganz vorn versuchen sollten.
»Nein .« Ich schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gefühlt.«
»Bist du sicher? Wenn sie in all dem Durcheinander gesprungen sind…«
»Ich bin sicher.« Ich hatte Mircea vor allem deshalb hängen gelassen, weil ich auf die zarte Verbindung mit meiner Mutter konzentriert gewesen war. Geistig hatte ich mich daran festgeklammert und ihr Vorrang vor allem anderen gegeben. Woraus folgte: Sie hätte keinen Zentimeter weit springen können, ohne dass ich es merkte.
»Aber warum sind sie nicht gesprungen?«, fragte Mircea. »In einem engen, umschlossenen Raum, und noch dazu verfolgt… Es ergibt doch keinen Sinn.«
»Es sei denn, ihnen blieb keine Wahl.«
Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Du glaubst, deine Mutter wird müde.«
»Kommt drauf an. Wenn dies derselbe Tag ist wie der, an dem die Party stattfand …«
»Das ist er.«
»Wie kannst du sicher sein?«
»Ich habe den Alkohol an ihm gerochen, als er in meine Nähe kam, den von dir verschütteten Sekt.«
Das hatte ich vergessen: die empfindlichen Vampir-Sinne. »Dann ist sie müde. Eigentlich müsste sie inzwischen völlig fertig sein. Dass sie noch auf den Beinen ist, grenzt an ein Wunder. Es ist sehr anstrengend, jemanden auch nur einmal durch die Zeit mitzunehmen, und sie hat das mehrmals getan…«
»Wie müde bist du?«
»Ich bin in Ordnung. Was allerdings keine große Rolle spielt, da wir ohnehin
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