Verlockend untot
in den dunklen Rachen des U-Bahn-Tunnels.
Und mein Protest verwandelte sich in einen Fluch. Ich machte Anstalten, vom Rand des Bahnsteigs auf die Gleise zu springen, doch Mircea hielt mich fest. »Ich gehe.«
»Und wenn sie springen?«
»Dann kehre ich zurück und hole dich.«
»Und wenn die Zeit dafür nicht reicht?«
»Ich beeile mich.«
Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir die Perücke übers eine Auge rutschte. Verärgert warf ich sie zu Boden. »Ich weiß nicht, wie die Verbindung zwischen uns funktioniert. Wenn die physische Distanz zu groß wird, bin ich vielleicht nicht mehr imstande, ihren Sprüngen zu folgen.«
»Das erscheint mir unwahrscheinlich. Wenn die Macht die Erbin holen soll, sollte es solche Einschränkungen eigentlich nicht geben.«
»Ich kann es nicht riskieren!«
Mircea kniff die braunen Augen zusammen, wie jemand, der bis in alle Ewigkeit widersprechen wollte, aber ich gab ihm keine Gelegenheit dazu. Ich streifte den mir verbliebenen Schuh ab, sprang neben die Gleise und fühlte zwischen meinen Zehen den Dreck, der sich in Jahrzehnten angesammelt hatte. Eine Sekunde später landete Mircea neben mir, mit einem unmutigen Gesichtsausdruck und einem Lichtstift in der Hand.
Ich vermutete, dass die kleine Lampe vor allem für mich gedacht war, aber eine große Hilfe stellte sie nicht dar. Ebenso wenig die Orientierungslichter hier und dort in den Wänden, die den schwarzen Schatten nur etwas Grau verliehen. Ich konnte nichts mehr sehen, als der hell erleuchtete Bahnsteig hinter uns zurückblieb.
Nicht dass es viel zu sehen gab. Der Tunnel war klaustrophobisch eng, so eng, dass mir Züge darin fast unmöglich erschienen. Er war auch warm und feucht, roch muffig und staubig. Eigentlich erleichterte es mich, dass ich keine Einzelheiten erkennen konnte. Allerdings konnte ich
hören
, was meinen Nerven nicht sonderlich half.
Gelegendich erklang ein Grollen, das von Zügen stammte, den Boden unter meinen nackten Füßen erzittern ließ und aus allen Richtungen zu kommen schien. Hinzu kam ein seltsames Echo unserer Schritte, das es schwer machte festzustellen, ob vor uns jemand ging. Und dann war da noch ein sehr verdächtiges Fiepen.
»Ich glaube, hier gibt es Ratten«, sagte ich, und meine Hand an seinem Arm drückte fester zu.
»Zumindest eine«, erwiderte er leise, und fast im gleichen Moment bemerkte ich das matte Glühen einer anderen Lampe, deren Licht weiter vorn über die Betonwände tanzte. Es war überraschend weit entfernt, wenn man bedachte, dass der Abstand nur zwei Minuten betragen konnte. Aber wenn er weiterwuchs, zerriss vielleicht die Verbindung zwischen uns.
Ich begann zu laufen.
Und stieß fast sofort gegen den Kidnapper, der mir entgegen-kam – im Dunkeln sah ich ihn erst, als er uns praktisch erreicht hatte.
Plötzlich war er da, die blauen Augen weit aufgerissen, das Haar zerzaust und der Mund zu einem
O Mist!
geöffnet. Mit dem verdammten Koffer stieß er mich fast zu Boden, und seine langen Beine stampften durch die Dunkelheit, als er zum Bahnsteig stürmte, verfolgt von Mircea.
»Was zum …« Ich bekam keine Gelegenheit, den Satz zu beenden, denn plötzlich war Mircea wieder da, schlang mir den Arm um die Taille und warf mich gegen die Wand.
Der Aufprall war hart. Ich schlug mir das Knie an, und meine Wange wurde an schmutzigen Beton gepresst, aber ich beklagte mich nicht, denn eine halbe Sekunde später fauchte ein roter Blitz durch den Tunnel, ließ mein Haar knistern und bescherte mir eine Gänsehaut. Verdammt!
»Sie sollten tot sein!«, stieß ich wütend hervor.
»Vielleicht ist das eine andere Gruppe.«
»Jonas sprach von fünf.«
»Ja, darauf sollten wir ihn hinweisen, wenn wir zurückkehren«, erwiderte Mircea grimmig, als zornige Halbgötter an uns vorbeisausten.
Ich zählte vier, nicht fünf, aber ganz sicher war ich mir nicht. Angesichts der grünen Nachbilder, die durch mein Blickfeld tanzten, fiel es mir schwer, irgendetwas zu erkennen. Und dann wurde es ganz unmöglich, als weitere Zauber durch den Tunnel gleißten und den Eindruck erweckten, als sei ein supermodernes Sicherheitssystem in ihm installiert.
Laserartige Zauber prallten von den Wänden und der Decke ab, rasten mit sich überschneidenden Flugbahnen durch den Tunnel und bildeten ein Netz aus scharlachrotem Feuer. Sie verwandelten diesen kleinen, engen Ort in etwas, das aus der Hölle zu kommen schien, und gaben mir genug Licht, um zu erkennen, dass diese speziellen
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