Verlockende Angst
andere Elementarkräfte gegen Reinblüter anwandten.
Die Wolke verdunkelte sich weiter, und Seth zog mich am Arm, aber ich hielt mich an der Galeriebrüstung fest.
» Gardisten! « , befahl Telly und aus allen Ecken stürzten Gardisten in ihren weißen Uniformen herbei wie ein Schneegestöber. Bis auf einen waren alle Halbblüter.
Die Augen des reinblütigen Gardisten hatten die Farbe dunkler Erde. Die Hand um einen Covenant-Dolch gelegt, sah er Telly an. Die anderen Gardisten hatten die beiden Liebenden erreicht und schafften es, Kelia aus Hectors Armen zu reißen. Schreiend wehrte sie sich und machte sich kurz los, nur um gleich darauf zu Boden gerungen zu werden.
Die Wolke unter der Decke wurde noch düsterer. Ein Blitz löste sich daraus und schlug in Tellys Nähe in den Boden ein. » Schalten Sie ihn aus! « , befahl Telly.
» Nein « , schrie Kelia. » Hör auf damit, Hector! Bitte! «
Der Reinblüter erreichte Hector, bevor er einen weiteren Blitz loslassen konnte. Ein Entsetzensschrei stieg aus meiner Kehle auf, aber Seth hielt mir den Mund zu. Der reinblütige Gardist– der Einzige, der ein anderes Reinblut niederzustrecken vermochte– stieß Hector die Titanklinge in den Rücken und drehte sie um. Ich hörte ein saugendes Geräusch und sah, wie sich die bedrohliche Wolke auflöste.
Seth riss mich von der Brüstung zurück. » Du darfst nicht schreien, hörst du? Wenn man uns entdeckt, gibt es allergrößten Ärger. Versprich mir, dass du nicht schreist! « Ich nickte und er ließ mich vorsichtig los. » Lass uns möglichst rasch verschwinden! «
Ich hörte Seth kaum. Entsetzen und Zorn tobten in meinem Innern und ich krallte die Finger in Seths Arm. Kelias Schreie gellten durch die Luft und brachen dann plötzlich ab. Das alles war unfassbar, grausam und entsetzlich.
Seth seufzte müde. » Wie gut, dass Aiden zur Besinnung gekommen ist! «
Mir schien das Blut in den Adern zu gefrieren und die Luft wurde knapp. Ich fuhr zu ihm herum. » Du hast gewusst, was passieren würde! Du hast mich mit Absicht hergebracht. «
Seine goldbraunen Augen glühten. » Ich hatte keine Ahnung, dass es so weit kommen könnte. «
» Das glaube ich dir nicht. « Mir war schlecht und ich stieß ihn gegen die Brust. » Du hast alles vorhergesehen! «
Seth wandte den Blick ab und seine Wangen liefen rot an. » Ich wusste nur, was euch widerfahren wäre, wenn ihr mit diesem Wahnsinn weitergemacht hättet. «
Wieder kämpfte ich gegen ihn an und dieses Mal ließ er mich los.
Den Rest meines ersten Tags in New York verkroch ich mich in dem schäbigen Zimmer. Ich wollte nicht hier sein und wünschte mich weit weg. Mein Magen rebellierte und ich war wütend auf Seth. Aber ich war auch zornig auf mich selbst.
Ich ließ mich auf dem Rand der harten Matratze nieder. Ich wusste nur, was euch widerfahren wäre, wenn ihr mit diesem Wahnsinn weitergemacht hättet.
So ungern ich es zugab, aber Seth hatte recht gehabt.
Aiden hätte genauso gehandelt wie Hector. Hätte Aiden mich geliebt und ich wäre in Kelias Lage geraten, dann hätte er gegen ein Heer von Gardisten gekämpft und dafür einen Dolch in den Rücken bekommen.
Ich legte den Kopf in die Hände und atmete gepresst ein und aus. Mein Herz sehnte sich nach Aiden, als wäre er die Luft, die ich zum Atmen brauchte. Gleichzeitig begriff ich– begriff wirklich–, dass wir nie zusammen sein durften, selbst wenn Aiden meine Liebe erwidert hätte.
Was hatte er an diesem Tag im Trainingsraum zu mir gesagt? Wenn er mich lieben würde, nähme er mir alles weg. Doch wie ich an Hectors und Kelias Beispiel erlebt hatte, hätte ich ihm ebenfalls alles weggenommen– sogar sein Leben.
Ein leises Klopfen riss mich aus meinen trüben Gedanken. Ich legte den knappen Meter bis zur Tür zurück und öffnete sie.
Seth stand da, die Arme vor der Brust verschränkt. » Alex… «
Ich schloss die Tür und verriegelte sie. Seth mochte recht gehabt haben, aber ich wollte ihn trotzdem nicht sehen. Falls ich mich noch einmal mit seinem hämischen Grinsen auseinandersetzen müsste, würde ich ihn wirklich verprügeln. Ich setzte mich wieder aufs Bett und starrte die Tür an.
Eine Minute verging, dann drehte sich der Türknauf zuerst nach links und dann nach rechts. Ich runzelte die Stirn und beugte mich vor. Ein unmissverständliches Geräusch verriet mir, dass die Tür aufgeschlossen wurde.
» Was zum Teufel…? « Ich sprang auf.
Die Tür schwang auf. Seth betrat das Kämmerchen. »
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