Verlockende Versuchung
sprachlos.
»Miss.« Der andere Gentleman nickte ihr kurz zu. Sein Blick betrachtete sie nicht mit der durchdringenden Schärfe des Marquess, doch auch er beobachtete sie eingehend.
»Und nun zu Euch. Habt Ihr einen Namen?«, wollte der Marquess wissen.
Sie schluckte. »Devon St. James.«
»Nun gut, Miss St. James, da Ihr gegenwärtig Gast in meinem Hause seid, habt Ihr vielleicht die Güte, mir von Euren nächtlichen ... Unternehmungen zu erzählen."
In seinen Augen lag eine verdeckte Kälte, die Devon erst jetzt bemerkte. Da stürzten die Erinnerungen auf sie ein. Deutlich spürte sie Freddies Finger um ihre Kehle, die ihr die Luft abschnürten. Deshalb war sie wohl auch heiser, und das Sprechen fühlte sich an, als steckten Nadeln in ihrem Hals.
Freddie, dachte sie wütend und entsann sich des Dolches, mit dem sie zugestochen hatte, und des seltsamen Gefühls von zerrissener Kleidung. Die Klinge hatte durchs Fleisch geschnitten .... bis ihr Angreifer sich schwankend fortgeschleppt hatte. Beinahe hätte sie laut aufgeschrien. Wo war er? Was war aus ihm geworden?
Sie blickte auf. » Da war ein Mann « , sagte sie unsicher. »Wo ist er'? «
Der Marquess schüttelte den Kopf. »Als ich Euch fand, wart Ihr allein. «
»Aber er war da! Ich versichere Euch, er war dort! «
»Und ich kann nur beteuern, dass Ihr allein wart. Zweifellos habt Ihr Euch die Verletzungen j edoch nicht selbst zugefügt. Erzählt uns von diesem Mann, mit dem Ihr zusammen wart. «
»Ich war nicht mit ihm zusammen. «
Unvermittelt hielt sie inne. Die Art, wie er sie ansah ...
»Miss St. James? Fahrt bitte fort."
Deutlich konnte sie spüren, was er von ihr hielt. Er bedachte sie mit einem Blick, als sei sie nichts weiter als Ungeziefer, und auf einmal wurde sie zornig. Sie würde nicht verbergen, wer sie war, sie konnte nicht ändern, wer sie war. Aufgewachsen in den schmutzigen, übel riechenden Straßen von St. Giles hatte sie schnell gelernt, dass sie ihr Vertrauen nicht leichtherzig verschenken durfte.
Auch wenn dieser Mann ein Marquess war, würde sie nicht zulassen, dass er ihren Stolz brach, der alles war, was sie besaß. Außerdem kannte sie Menschen wie ihn zu Genüge. Lange vor Mamas Tod hatte Devon beschlossen, nicht aufzugeben, sondern ihr Versprechen zu erfüllen, eines Tages ein besseres Leben zu führen. Sie war zu den vornehmen Häusern der Stadt gegangen, um eine andere Anstellung zu finden. Seit ihrer Jugend hatte Devon gearbeitet. Da Mamas Tätigkeit als Näherin kaum für Nahrung und Wohnung reichte, hatte sie am Hafen Fische ausgenommen, Wege für Adelige gefegt, die die Straße überquerten oder aus ihren Droschken stiegen und Schmutzwasser aus Küchen geschleppt.
In den Häusern der Lords und Ladys von London war j edoch keine Arbeit zu finden gewesen, ebenso wenig in den achtbaren Etablissements der Stadt, weder als Dienstmädchen, Köchin oder Küchenhilfe. Ein Blick auf Devon hatte ausgereicht, damit ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Sie versuchte ihr Bestes, um respektabel auszusehen, aber es war nicht immer einfach - so hatte sie etwa eines Tages eine Schale vor ihrer Tür aufgestellt, um Regenwasser für ein Bad aufzufangen, doch irgendein niederträchtiger Mensch hatte es gestohlen. Wäre sie sauber und rotwangig gewesen, hätte es vielleicht einen Unterschied gemacht. Dass ihre abgetragene Meldung bereits seit Jahren verschlissen war, hatte auch nicht eben geholfen. Ihre Mutter hatte die Kleider zwar regelmäßig geflickt und den Saum so weit wie möglich ausgelassen, konnte j edoch kein Geld für neue Stoffe zurücklegen.
»Miss St. James, warum habe ich das Gefühl, dass es da etwas gibt, das Ihr uns nicht erzählen wollt? «
Die bissige Erwiderung, die Devon auf der Zunge lag, blieb ihr im Halse stecken. Justins Blick war beinahe so unerbittlich wie der seines Bruders. Sie erbleichte und fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. In den Adern dieser Männer floss blaues Blut, und Aristokraten hatten keinerlei Verwendung für Menschen wie sie! Was würden die beiden tun, wenn sie erfuhren, dass sie Freddie niedergestochen hatte?
Ohne mit der Wimper zu zucken würde man sie den Behörden überstellen.
»Miss St. James? Geht es Euch nicht gut?
Ihr Herz schlug wild. »Doch, mir geht es gut«, erwiderte sie 'rasch, teils aus Angst, teils aus Trotz. Da schreckte sie hoch.
»Meine Kette! « Fieberhaft glitten ihre Hände über die Satindecke. »Meine Kette! Wo ist sie? Ich darf sie nicht
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