Verlockendes Dunkel
anderen Straßenseite aus beobachtete Brendan das Gewühl von Händlern mit Karren voller Fisch oder Hühnerkäfigen, einen Messerschleifer und einen Mann mit bullenstarken Armen und fleckigen Zähnen, der etwas, was wie eine halbe Kuh aussah, auf seinen breiten Schultern schleppte. Die Rufe der Straßenhändler vermischten sich mit dem Geschrei der Kinder, die sich durch die Menge drängten. Jemand schrie, man solle einen Dieb aufhalten. Die Glocken einer nahen Kirche läuteten. Aus dunklen Eingängen drang das Stöhnen von Bettlern, und über die schmale Straße rumpelte ein kleiner Pferdekarren.
Eine vollbusige junge Frau winkte Brendan aus einer nahen Gasse, bückte sich, um ein fallen gelassenes Taschentuch aufzuheben und ihm so einen guten, tiefen Blick in ihren großzügigen Ausschnitt zu gewähren. Als Nächstes zog sie ihre Röcke bis zu den Knien hinauf, um ihm einen kleinen Vorgeschmack darauf zu geben, was für ein paar Münzen und ein paar Minuten ihm gehören könnte.
Brendan tippte sich lächelnd an den Hut, blieb aber stehen, wo er war.
Eine kalte Klinge presste sich an seine Kehle. »Erwischt. Jetzt bist du dran.«
Einen Moment lang dachte er, es sei vorbei, doch dann sagte er: »Ein bisschen höher und nach links, und du kannst uns beide aus unserem Unglück erlösen«, weil er die Kraft von Helena Roseingraves Hand hinter dem Stahl spürte.
Das Messer wurde zurückgezogen. »Das wäre zu leicht, mein Freund, aber wenn du dich so verhältst, kann ich mich nur fragen, wie du so lange überlebt hast.«
Er hatte nie die Konzentration verloren, nie in seiner Aufmerksamkeit nachgelassen. Und vor allem hatte er sich niemals erlaubt, sich in dummen Fantasien zu verlieren. Das war das Geheimnis seines Überlebens. Bis vor ein paar Wochen. Bis Elisabeth Fitzgerald wieder in sein Leben getreten war.
Noch einmal blickte er die Straße hinauf und hinunter und suchte nach Anzeichen, dass er verfolgt worden war. Die junge Frau hatte sich mit einem Seemann in die Gasse zurückgezogen. Der Dieb war von einer Bande enthusiastischer Jugendlicher gefasst worden, die ihn schlugen und traten, während er mit seinem gestohlenen Laib Brot über den Boden rollte.
»Mach dich nützlich, wenn du schon mal hier bist!«, sagte er zu Helena. »Ist irgendein Amhas-draoi hier draußen? Laufe ich in einen Hinterhalt?«
»Das hast du schon getan, scheint mir.«
Er warf ihr einen bösen Blick zu, als sie mit schmalen Lippen und einer kleinen Falte zwischen den Brauen den Blick über die Straße gleiten ließ. »Keiner, den ich spüren kann. Doch kannst du mir jetzt sagen …«
»Lass uns gehen!« Brendan wandte abrupt den Kopf ab, um weitere Gespräche zu verhindern, und trat aus der Gasse, ohne auch nur zurückzublicken, ob sie ihm folgte.
Mit schnellen Schritten überquerte er die Straße und stieß die Tür zu der Schenke auf. Rauch hing über den Tischen wie eine dichte Wolke. Ein Schankmädchen rief dem Mann an der Theke eine Bestellung zu. Ein schroffes Brüllen war die Antwort. Männer saßen in gebückter Haltung an den Tischen und hielten Krüge voll flüssigen Vergessens zwischen den knotigen, abgearbeiteten Händen. Der Gestank von verschüttetem Alkohol und der Mief ungewaschener Körper brannte Brendan in den Augen, als er sich in dem Halbdunkel nach seinem Cousin umsah.
Eine Hand erhob sich müde. Ein Zeichen für die Magd, ein weiteres Bier zu bringen. Brendan lächelte. Er hatte Jack gefunden.
Er bahnte sich einen Weg an den Tischen vorbei und grinste dabei über die anzüglichen Angebote und trunkenen Pfiffe hinter ihm. Einmal griff eine Hand nach Miss Roseingrave. Ein erschrockener Aufschrei, und die Hand wurde schnell zurückgezogen, während Helena dem Kerl unmissverständlich erklärte, welche Körperteile ihr Messer als Nächstes spüren würden, falls der Übeltäter in Zukunft seine Finger nicht bei sich behielt.
Aber es war nicht der bedrohte Trinker, der mit einem überraschten Fluch antwortete, sondern Jack O’Gara, dessen Gesicht sogar im Dämmerlicht der Schenke kreidebleich wurde. »Ach du Schande! Was macht sie denn hier?«
»Ich traue meinen Augen noch immer nicht, Junge. Es ist, als sähe ich ein Gespenst. Ich meine, hier sitzt du vor mir. Quicklebendig. Und kaum verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
»Du solltest mal deine Brille putzen, falls du das tatsächlich denkst, Daz.« Brendan drehte seinen noch randvollen Bierkrug in der Hand.
Der alte Mann schob seine
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