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Verlockendes Dunkel

Verlockendes Dunkel

Titel: Verlockendes Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Rickloff
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»Zeigen Sie mir, was Sie gesehen haben!«
    Zum ersten Mal wirkte Madame Arana misstrauisch, als ihr Blick zwischen Elisabeth und dem langen, halb im Dunkeln verborgenen Spiegel hin- und herglitt. »Ich verstehe nicht.«
    »Sie sagten, der Spiegel würde mir enthüllen, was er weiß, wenn ich stark genug wäre, es zu akzeptieren. Ich bin stark genug. Also lassen Sie mich die Zukunft sehen!«
    »Na schön.« Madame Arana ging zu dem Spiegel, entfernte das Seidentuch, das ihn wieder verhüllt hatte, von seiner Oberfläche und strich liebevoll mit der Hand über den polierten Rahmen. Sofort verdunkelte sich das Glas von schweren, sich auftürmenden und zusammenballenden Wolken, während die hübsch geschnitzten Waldtiere und Pflanzen auf dem Rahmen unter der magischen Berührung Madame Aranas zum Leben zu erwachen schienen.
    »Komm näher, ma puce! Wenn der Spiegel will, wird er uns zeigen, was er weiß. Aber sei nicht enttäuscht, falls er beschließt, sein Wissen für sich zu behalten, oder dir etwas zeigt, was du nicht sehen willst! Er beantwortet meine Bitten, doch er befolgt keine Befehle, und ich kann ihn nicht zwingen, dir etwas zu zeigen, wenn er es für klüger hält, seine Geheimnisse zu wahren.«
    Doch nun, da sie die Gelegenheit bekam, wurden Elisabeths Füße bleiern, das Herz hämmerte ihr in der Brust, und ihr Atem kam schnell und unregelmäßig. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Die Zukunft zu kennen war keine gute Idee. Nicht einmal, einen kleinen Blick hineinzutun.
    Aber ihre Beine schienen sie über den Boden zu führen, ohne dass ihr Gehirn viel Wind darum machte. Gerade befand sie sich noch an der Treppe, und im nächsten Moment stand sie vor dem Spiegel, fasziniert von einem Prisma in allen Regenbogenfarben innerhalb der aufgewühlten schwarzen Wolken.
    Nicht sicher, wie sie vorgehen sollte, da sie sich noch nie zuvor bewusst dazu entschieden hatte, in die Zukunft zu sehen, leerte sie ihren Geist von allem außer Brendans Gesicht – lachend, wild und voller Eifer. Mit diesem Bild im Kopf legte sie die flachen Hände an den Spiegel und stellte ihre stumme Frage an wen oder was auch immer ihr zuhören mochte.
    Sofort hatte sie das Gefühl, als bildeten sich Eiskristalle in ihren Adern, und ihr Herz überzog sich mit einer frostigen Glasur, die jeden Atemzug zu weißen Winterwölkchen machte. Ihre Zähne klapperten, ihr Magen verkrampfte sich vor Kälte, und Taubheit verbreitete sich von ihren Fingern über ihre Arme bis zu ihrer Brust. Aber sie zog die Hände nicht zurück, sondern starrte hingerissen auf die tanzenden Farben, als die Wolken sich hier und da ein wenig teilten und den Blick auf eine Bewegung freigaben, die sich jedoch schnell veränderte oder verschwand, bevor Elisabeth sie richtig sehen konnte.
    »Der Spiegel kann vergangene Ereignisse oder zukünftige Möglichkeiten offenbaren. Oder vielleicht zeigt er dir auch nur, was in deinem eigenen Herzen vorgeht. Es ist nicht vorauszusagen, was er tut.«
    Madame Aranas Stimme kam von weither, ihre Worte gingen fast unter in den Geräuschen von Elisabeths Körper – dem Rauschen ihres Blutes in ihren Adern, dem Pfeifen ihrer Lunge und ihrer aufgeregten Atemzüge, dem Knirschen ihrer Gelenke, wenn sie sich bewegte, und dem Pochen ihres Hirns, das sich bemühte, einen Sinn im scheinbar Sinnlosen zu erkennen.
    Ein Bild erschien, für einen Moment nur, aber lange genug für Elisabeth, um einen kurzen Blick darauf zu erhaschen. Ein Mann und eine Frau beim Liebesspiel, sein gebräunter Körper feucht vor Schweiß, ihr Kopf von einer Fülle roten Haares umgeben. Elisabeth errötete vor Verlegenheit und verspürte ein Kribbeln in ihrem Magen, als sie die rhythmischen Bewegungen des Mannes und die sinnliche Verzückung der Frau sah. Sie nahm sogar ein scharfes Ziehen zwischen ihren Beinen wahr, während sie das Paar den Höhepunkt der Lust erreichen sah.
    Sie blinzelte, als das Bild wieder in den Wolken verschwand und ein anderes an seine Stelle trat. Es zeigte einen Mann, verkrüppelt und gebeugt vom Alter, mit einem fratzenhaften Gesicht, das glühte vor Gier, Verlangen und Triumph. Er wandte sich jemandem zu, der bis auf ein helles, völlig emotionsloses Auge in dem Nebel fast nicht zu erkennen war.
    »Beantwortet der Spiegel deine Fragen, oder spielt er den koketten Geliebten, der sich in ein verführerisches Schweigen hüllt?«, fragte Madame Arana.
    Elisabeth versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war eng, ihr Mund wie ausgedörrt und ihre

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