Verlockendes Dunkel
Brille auf die Stirn und wischte sich mit einem riesigen Taschentuch über die Augen und die schweißglänzende Stirn. Nachdem er sich noch einmal laut die Nase geschnäuzt hatte, steckte er es in die Tasche eines mit Goldborte abgesetzten, früher einmal scharlachroten und heute nur noch rosafarbenen Samtjacketts.
Daz Ahern mochte zwar der Meinung sein, dass Brendans Aussehen sich nicht verändert hatte, aber das ließ sich leider nicht von dem Bär von Mann behaupten, den Brendan in Erinnerung gehabt hatte. Daz wirkte ernüchtert, desillusioniert, als hätten die Jahre das Leben aus ihm herausgetrieben. Seine Schultern waren gebeugt, seine Brust viel schmaler als früher, und die Haut hing buchstäblich von seiner einst so stämmigen Gestalt herab. Sein Haar war dünn und glatt geworden, sein Gesicht gerötet vom Alkohol, und sein Blick hinter der großen Brille war kurzsichtig und geistesabwesend. Und zu allem Überfluss war er mit einem fleckigen, abgetragenen Anzug bekleidet, der seit mindestens zwanzig Jahren aus der Mode war.
Daz war der engste Freund von Brendans Vater gewesen. Ein fröhlicher, lebensfroher Berg von einem Mann, der immer Pfefferminz in den Taschen gehabt und jederzeit, egal, was er auch tat, innegehalten hatte, um mit den Kindern von Kilronan zu spielen. Eine Runde Fangen, Blindekuh oder Verstecken. Er war eine Art Lieblingsonkel gewesen. Ein kinderlieber, lachender Erwachsener in Brendans Kindheit, die eingeengt wurde von einem zu anspruchsvollen Vater und einer zu nachgiebigen, gleichgültigen Mutter.
Nie war Brendan erlaubt worden, das Allerheiligste zu betreten, in dem die Versammlungen der Neun stattfanden, und das, obwohl er an vielen Aufgaben der Gruppe aktiv mitgearbeitet hatte. Er hatte seinem Vater nicht nur bei seinen Experimenten assistiert, sondern ihm auch geholfen, nach der Rywlkoth-Tapisserie und dem Sh’vad Tual zu suchen, als alle den alten Earl für verrückt erklärt hatten, weil er sein Leben damit verbrachte, Legenden nachzujagen. Aber der junge Brendan, der ihn vergötterte und sich als seinen engsten Vertrauten betrachtete, hatte es immer als Privileg empfunden, dazuzugehören.
Erst später, als Brendan älter und, wie er glaubte, reifer wurde, hatte er begonnen, Daz’ stetige Freundlichkeit mit Verachtung und seine bedingungslose Bereitschaft zu tun, was immer von ihm verlangt wurde, als Anzeichen von Schwäche zu betrachten.
An Daz’ gutmütiger Zuneigung zu Brendan hatte sich jedoch nie etwas geändert. Und als die Ereignisse außer Kontrolle gerieten, als Einschüchterung zu einem Werkzeug und Mord zu einer Waffe wurden, als die Neun sich verbreiteten wie eine Krankheit und Vaters Traum vom friedlichem Zusammenleben mit den Duinedon zu zwanghaften Überlegenheitsgefühlen wurden – als Brendan die Stimmen in seinem Schlaf und die Schuldgefühle, die ihm den Magen umdrehten, nicht länger ignorieren konnte –, hatte er sich in seiner Verzweiflung an Daz gewandt und überrascht und erleichtert festgestellt, dass mindestens noch ein Mensch seine illoyalen Gedanken teilte.
Zusammen versuchten sie, Wiedergutmachung zu leisten und die Lage zu entschärfen, den sich immer mehr verbreitenden Wahnsinn, auf einen Krieg hinzuarbeiten, den die Anderen niemals gewinnen konnten, zu bremsen und die lautstark protestierenden Geister der Toten zufriedenzustellen.
Daz rieb sich mit einem seiner dicken Finger die Knollennase. »Als O’Gara vor meiner Tür erschien, hätte ich ihn fast erschossen.«
Brendan schob noch immer seinen Bierkrug auf der Tischplatte herum. »Das passiert ihm gar nicht selten.«
Und wo steckte Jack überhaupt?
Er hatte mehrmals die Farbe gewechselt, nachdem Brendan mit Miss Roseingrave erschienen war. Zuerst war er kreidebleich geworden, dann rot, und schließlich war er regelrecht grün um die Nase geworden. Brendan hatte schon befürchtet, sein Cousin könnte vergiftet worden sein, bis ein Blick auf Helena Roseingrave ihm gezeigt hatte, dass auch ihr Gesicht mehrmals die Farbe wechselte. Nur sah sie so aus, als könnte ihr jeden Moment der Kopf platzen.
»Du!«, hatte sie Jack angefahren, worauf er aufgesprungen war und sie trotz ihres mörderischen Blicks am Arm mit sich fortgezogen hatte. Dass die beiden schon eine ganze Weile weg waren, erforderte eine Entscheidung. Sollte Brendan hier sitzen bleiben oder die umliegenden Gassen nach der Leiche seines Cousins absuchen? Aber würde überhaupt noch genug von ihm übrig sein, um ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher