Verlockung der Nacht
die Frau an, sich wachsam umblickend, während wir vom Schlafzimmer zur Haustür liefen. Dabei rechnete ich die ganze Zeit über damit, dass ein zerbrochenes Möbelteil oder das zerschlagene Geschirr sich in die Luft erheben und auf uns zuschießen würde, aber nichts geschah.
Wir öffneten die Haustür, und wieder strafften sich all meine Muskeln in der Erwartung, dass sie zuschnellen und uns treffen würde, doch auf der anderen Seite wartete nur das Sonnenlicht auf uns. Das Auto schien unberührt zu sein, und die beiden Räuchergefäße brannten noch in den Becherhaltern, sodass das Wageninnere von einem leichten Rauchschleier erfüllt war.
Ich stieg mit Lisa hinten ein und ließ das Fenster gerade so weit herunter, dass der Anti-Geister-Qualm sie nicht erstickte, aber sich auch nicht ganz verzog. Dann machten wir uns so schnell davon, dass ein paar Anwohner uns irritierte Blicke zuwarfen, als wir an ihnen vorbeirauschten, aber Kramer ließ sich nach wie vor nicht blicken.
In meine Erleichterung mischte sich Argwohn. »Glaubst du, er ist im Augenblick anderweitig beschäftigt? Oder lässt uns unversehrt entkommen, weil er will, dass wir ihn geradewegs zu Francine führen?«
»Egal«, meinte Bones und warf einen Blick zu mir nach hinten. »Wir fahren nicht direkt zum Haus zurück.«
»Nicht?« Das war mir neu.
Bones’ Mundwinkel zuckten. »Nein, und deshalb musst du jetzt auch deinen Strahleblick einschalten und der Frau sagen, dass sie ganz ruhig sein soll, sonst schreit sie in zehn Minuten wie am Spieß.«
Am Rand eines Maisfeldes stiegen wir aus, damit Bones uns den Rest der Strecke durch die Luft transportieren konnte, weil, so erklärte er, Geister uns ab einer Höhe von etwa achthundert Metern nicht mehr folgen konnten. Jetzt, wo er es sagte, fiel mir auf, dass sowohl Fabian als auch die anderen Geister, die mir bisher begegnet waren, sich immer in Gebäude- oder Bodennähe fortbewegt hatten, es sei denn, sie benutzten ein Flugzeug oder etwas Ähnliches als Vehikel. Bones flog so hoch, wie er es Lisa zumuten konnte, damit sie wegen Kälte oder Sauerstoffmangels keinen Schaden nahm. Es war zwar heller Morgen, aber in dieser Höhe würden wir trotzdem schwer zu sehen sein, insbesondere da Bones ein hellblaues Laken mitgenommen hatte, in das wir uns einwickelten, um noch besser getarnt zu sein. Hatte ich mich erst einmal richtig ans Fliegen gewöhnt, würde ich vielleicht genauso gründlich vorgehen wie er, aber im Augenblick war es für mich bereits eine Großtat, keine Bruchlandung hinzulegen.
Als wir Lisa über Kramer ins Bild gesetzt hatten, stellte sich heraus, dass ihre Geschichte der von Francine auf geradezu unheimliche Weise ähnelte. Sie war geschieden, hatte keine Geschwister und einen Vater, der zwar noch am Leben, aber bei schlechter Gesundheit und in einem Pflegeheim untergebracht war. Auch sie hatte gerade eine Pechsträhne hinter sich; ihren gut bezahlten Job hatte sie aufgrund von Einsparungsmaßnahmen vor einigen Monaten verloren, und ihrem Haus drohte die Zwangsversteigerung. Trotz zwei Teilzeitjobs hatte sie die Hypothek nicht abbezahlen können, da sie aber einer Erwerbstätigkeit nachging, war ihr das Arbeitslosengeld gestrichen worden. Dazu kam noch der stümperhafte Einbruch, bei dem ihre Katze getötet worden war, sodass Lisas Freunde glaubten, ihre Behauptungen, sie würde daheim von einer unsichtbaren Macht angefallen, wären auf den Stress zurückzuführen, der sich in Form von paranoiden Wahnvorstellungen niederschlug.
Lisa schien froh zu sein, Francines Bekanntschaft zu machen, obwohl es sie belastete zu hören, dass der Geist, der ihr so zugesetzt hatte, anderen Frauen das Gleiche antat. Ich konnte dennoch verstehen, warum es eine Erleichterung für Lisa war, jemanden kennenzulernen, der ihr nicht nur Glauben schenkte, sondern auch genau wusste, was sie durchgemacht hatte.
Gleiches galt für Francine. Bones und ich konnten zwar Mitgefühl zeigen, was aber das Gespräch mit Lisa nicht ersetzte. Sie waren Überlebende einer Schlacht, die wir uns zwar ausmalen konnten, aber im Gegensatz zu den beiden nicht durchlebt hatten, sodass wir nur eingeschränkt in der Lage waren, ihre Gefühle nachzuvollziehen.
Nachdem wir all ihre Fragen beantwortet hatten, ging Bones nach nebenan, um den Rest unserer Gruppe auf den neuesten Stand zu bringen, und ich brachte Lisa nach oben in Francines Zimmer, wo ein Bett und saubere Kleidung auf sie warteten. Später würde ich für beide neue
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