Verlockung der Nacht
keine mehr übrig sein. Wenigstens hielt der Salbei, der für Tylers ständiges Husten verantwortlich war, Kramer davon ab, ins Haus einzudringen. Er konnte es bloß mit Gegenständen bewerfen und uns in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und ein paar lateinischen Brocken beschimpfen.
Dunkle Wirbel formten sich nahe der Veranda, dann konnte man den an einen stacheligen, bleichen Heuhaufen erinnernden weißen Haarschopf über der hageren Gestalt des Inquisitors ausmachen. Ich wartete still und tippte dabei in stummer Warnung an mein Räuchergefäß.
»Hexe« , zischte Kramer auf Deutsch, kaum dass er ganz sichtbar war.
»Hm-hm«, machte ich und fragte mich, wie lange er diesmal zetern würde. »Ich bin eine Frau, und das macht mich für dich zur Hexe. Muss dir ja ziemlich den Toast verbrannt haben, die Frauenbewegung der letzten Jahrhunderte mitzuerleben.«
Der Inquisitor reagierte nicht wie sonst mit einer Schimpftirade. Er lächelte nur so breit, dass man seine unansehnlichen Zähne erkennen konnte. Igitt war nicht einmal annähernd das richtige Wort, um meine Abscheu vor den schief stehenden braunen Stümpfen auszudrücken.
»Toast? Nein, den verbrenne ich nicht«, antwortete er, und sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er jedes Wort auskostete.
Hätte ich nicht gewusst, dass Bones genau in diesem Augenblick im Keller an der Falle für diesen hundsgemeinen Mörder arbeitete, hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und mich wieder nach drinnen verzogen. Doch dann hätte das Haus noch mehr Schaden genommen, den wir hätten reparieren müssen, sodass uns noch weniger Zeit für den Bau der Falle geblieben wäre. Ich blieb aber noch aus einem anderen Grund: Jede Sekunde, die Kramer mir hier draußen auf den Sack ging, war eine Sekunde weniger, die er mit der Folterung seines letzten Opfers verbringen konnte. Elisabeth hatte die Frau noch nicht gefunden, und auch unsere eigenen Nachforschungen waren bisher fruchtlos geblieben. Anders als diese Frau war ich nicht allein und ohne einen Vertrauten, der mir glaubte, was für ein böses Spiel der Geist trieb. Und so stand ich hier herum und gab mich mit Kramer ab, weil das alles war, was ich für die Unbekannte tun konnte, bis wir sie ausfindig gemacht und zu Spade und Denise gebracht hatten.
»Das wird ein einsames Halloween für dich, dieses Jahr, so ganz ohne Francine und Lisa«, bemerkte ich kühl. »Und was machst du, wenn wir die letzte Frau auch noch finden – und das werden wir, mein krummzahniger Freund. Das Einzige, was du dann noch mit deinen vorübergehend materialisierten Pranken grillen wirst, sind Marshmallows.«
Jetzt kam das erwartete Geschimpfe. Teils auf Englisch, teils auf Deutsch, aber bestimmte Worte kannte ich inzwischen recht gut, also wusste ich so ungefähr, worum es ging.
»Bla bla bla, ich bin eine liederliche Hexe, und das Fegefeuer erwartet mich, bla. Du musst dir echt mal was Neues einfallen lassen. Meine Mutter flucht besser als du.«
Ein Verandabrett kam auf mich zugesegelt. Ich stieß es mit einer Hand beiseite, die andere fest um mein Räuchergefäß geschlossen. Solange ich das hatte, würde Kramer es nicht wagen, seine Energiestöße auf mich abzufeuern, und die taten um einiges mehr weh als irgendwelche durch die Luft fliegenden Gegenstände, wenn er mich überhaupt traf.
»Ich habe über mein Halloweenkostüm für dieses Jahr nachgedacht«, verkündete ich, als könnte ein durch die Luft sausendes Brett mich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe mich schon ewig nicht verkleidet, aber du hast mich auf was gebracht. Ich glaube, ich gehe als Elphaba aus Wicked . Sie ist eine missverstandene Hexe, hinter der der Pöbel her ist, aber am Ende trickst sie alle aus und gewinnt. Herzerwärmend, nicht wahr?«
Wieder Hasstiraden, diesmal nicht nur auf mich, sondern auch auf den Schoß, der mich geboren, und den Teufel, der mich gezeugt hatte. In diesem Punkt hatte Kramer zumindest einmal recht. Mein Vater war ein Arschloch erster Güte. Darin glich er Kramer. Und wenn es nach mir ginge, würden die beiden bald noch mehr gemeinsam haben. Soweit ich gehört hatte, saß mein Vater gerade eine lebenslange Haftstrafe unter wahrhaft grausamen und ungewöhnlichen Bedingungen ab.
»Ach, ich liebe dein Gewäsch«, fuhr ich fort, drei weiteren Brettern ausweichend, die er nach mir warf. »Ich weiß zwar nicht so genau, was du davon hast, aber mir bekommt es bestens. Mann, gestern Nacht habe ich mir aus ein paar Vorhangfetzen und Spänen von den
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