Verlockung der Nacht
unangenehm.
»Es geht nicht, wenn ihr zuschaut«, verkündete sie schließlich.
»Was?«, stammelte ich.
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Es ist mir zu peinlich. Du bist meine Tochter, und er«, sie sah Bones an, der ihr ein unverschämtes Grinsen schenkte, »ist zu arrogant«, beendete sie ihren Satz.
»Niemand ist arroganter als Ian«, flüsterte ich.
Ian zwinkerte mir zu. »Danke, Gevatterin.«
Bones legte mir die Hand auf den Rücken. »Na los, Kätzchen, gehen wir. Ian, du bist für ihre Sicherheit verantwortlich. Wir sind gleich wieder da.«
Ich sah Tyler an, dessen Gedanken nicht um unseren Weggang, sondern um Ian kreisten, und zwar auf eine Art und Weise, dass ich gar nicht hinhören wollte. »Kommst du allein mit den beiden klar?«, fragte ich ihn trotzdem.
»Bestens. Kusch«, antwortete er mit einem nachdrücklichen Fingerschnippen.
»Okay, bis bald dann.«
Während Bones mich die Kellertreppe hinaufdrängte, schien er mit jedem Schritt fröhlicher zu werden.
»So bald dann wohl doch nicht«, rief Ian.
Ich war mir nicht ganz sicher, glaubte aber zu hören, wie Bones murmelte: »Ganz recht, mein Freund.«
29
Die Lichter von Sioux City glitzerten in der Ferne wie auf dem Boden verstreute Diamanten. Unter uns erstreckte sich meilenweit Ackerland, durchsetzt nur von einigen Häusern, Straßen und Fabriken. Ich fürchtete nicht, gesehen zu werden. Erstens war es Nacht, und mit unserer schwarzen Kleidung waren wir in dieser Höhe praktisch unsichtbar. Zweitens waren wir außerhalb der Stadtgrenzen in ländlicher Gegend unterwegs, wo es mehr Felder als Menschen gab.
»Das war eine gute Idee«, murmelte ich.
Ich hatte geglaubt, wir würden einfach in dem demolierten Wohnzimmer abwarten, bis Ian verkündete, dass die Luft rein war, aber Bones hatte mich in die Arme genommen und war mit mir davongestoben, bevor Kramer auch nur ein paar Bretter herbeibeamen und nach uns werfen konnte. Jetzt waren wir meilenweit vom Haus entfernt, so hoch, dass mir nur noch meine eigenen Gedanken im Kopf herumgingen, und ganz allein. Endlich, zum ersten Mal seit Wochen gab es nur uns beide. Niemand da, der vor der Tür herumlungerte oder bedrohlich ums Haus geisterte.
Bones schloss seine Hand um meine. Wir flogen wie zwei Vögel – die Arme ausgebreitet, die Beine gestreckt, vom Wind umtost wie von einem unsichtbaren Wasserfall. Es war das erste Mal, dass ich flog, ohne etwas Dringendes zu erledigen zu haben, und obwohl es kalt war, störte ich mich nicht daran. Ich fühlte mich wundervoll frei. Die Kälte war da ein geringer Preis.
»Bevor ich dich kennengelernt habe, bin ich stundenlang geflogen, um den Kopf freizukriegen«, sagte Bones, dessen Stimme über das Tosen des Windes hinweg zu mir drang. »So fand ich noch am ehesten Frieden, aber ich bin immer allein geflogen, obwohl einige meiner Freunde mich hätten begleiten können. Bevor ich dich kennengelernt habe, wollte ich nie jemanden dabeihaben.«
Ich sah ihn an, fasziniert von mehr als nur seinem perfekten Gesicht oder der Art, wie der Wind ihm die Kleider wie eine zweite Haut an den Leib presste. Bones’ Lippen formten sich zu einem Lächeln, wie ich es lange nicht bei ihm gesehen hatte – sorglos. Und die Emotionen, die meine Sinne berührten, waren von einer Freude durchzogen, dass ich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hätte, um sie ihm erhalten zu können.
»Ich bin so froh, dass ich jetzt hier bei dir bin«, flüsterte ich. Es hatte Jahre gedauert, in denen ich mit mehr Schmerzen und Prüfungen konfrontiert gewesen war, als ich je zu überstehen geglaubt hatte, um an den Punkt zu gelangen, an dem ich so an seiner Seite dahingleiten konnte, und doch hätte ich alles noch einmal auf mich genommen, tausendmal, um diesen Moment mit ihm zu teilen.
Er lächelte. »Sprich ein bisschen lauter, Schatz. Ich kann dich nicht hören bei dem Wind.«
Ich vollführte eine Rolle, sodass ich unter seinen Arm glitt. Er schloss die Arme um mich, während unsere Leiber unter dem mitternachtsblauen Himmel dahinschossen. Bones trug ähnliche Kleidung wie ich, ein schwarzes, langärmliges Hemd zu ebenso dunklen Hosen und Stiefeln, aber sein Hals war nackt. Ich presste die Lippen darauf und genoss sein Stöhnen, als meine Zunge hervorglitt, um seine Haut zu schmecken.
»Weißt du noch, als ich das zum ersten Mal gemacht habe?«, murmelte ich, ihn mit den Armen umfangend.
»Wir haben getanzt.« Seine Stimme klang voller, als die Leidenschaft in ihm wuchs.
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