Verlockung
trennte.
„Nein! Ich kann nicht! Ich muss zu ihm, bitte. Ich war dabei, als es passiert ist und es ist meine Schuld, dass er jetzt hier liegt. Bitte, ich muss ihn sehen“, erklärte ich aufgewühlt, während mir langsam die Tränen in die Augen stiegen.
Sie schien zu zögern. „Ich glaube nicht, dass Sie sich einen Gefallen tun, wenn Sie ihn sehen würden… Zudem darf ich nur Familienangehörige und die Schulleitung zu ihm lassen.“
„Der Direktor hat mich geschickt, reicht das? Bitte, lassen Sie mich zu ihm.“
Noch einmal schien sie zu überlegen, dann nickte sie. „Gut, gehen Sie in den zweiten Stock, Zimmer 74. Sagen Sie den Schwestern, dass Sie von der Schulleitung beauftragt wurden, um nach ihm zu sehen, vielleicht können Sie dann kurz zu ihm.“
„Danke“, sagte ich und rannte sofort zu den Aufzügen. Im zweiten Stock angekommen, führten unzählige Wege von dort weg, doch zum Glück waren sie beschildert, weshalb ich recht bald das Schwesternzimmer fand.
Ein Pfleger saß darin und kam auf mich zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich möchte zu Night Reichenberg. Ich habe schon an der Information angegeben, dass der Direktor mich schickt.“
Der Pfleger musterte mich kurz, zuckte aber schließlich mit den Schultern. „Ist bestimmt besser, wenn er nicht alleine ist.“
Zusammen mit mir schritt er zu einer Glastür, auf der „Intensivstation“ stand. Ich starrte mit großen Augen auf die Schrift. Ich konnte es nicht fassen und zugleich wusste ich, dass dies nicht bloß ein schrecklicher Traum war…
Der Pfleger hielt seine Schlüsselkarte an das Lesegerät und trat mit mir ein, als die Türe aufschwang. Wir mussten nur wenige Meter weit gehen, bis wir am Zimmer 74 angekommen waren. Er ging hinein, dicht gefolgt von mir.
„Er liegt im Koma, wahrscheinlich aufgrund der Kopfverletzung. Die Stichwunden sind versorgt worden; die tiefe Verletzung am Rücken ist ein Problem, aber nicht lebensbedrohlich. Er hat sich ein paar Rippen gebrochen und Bluttransfusionen erhalten, ansonsten sind da noch einige Hämatome.“ Er musterte mich kurz; ich war starr vor Entsetzen.
„Setzen Sie sich am besten auf den Stuhl dort und leisten ihm ein bisschen Gesellschaft, vielleicht lässt ihn das wieder aufwachen. Seine Mutter haben wir leider nicht erreichen können; sie sind der einzige Besucher bisher. Wenn es Ihnen zu viel wird, können Sie aber auch jederzeit gehen. So ein Anblick ist für die meisten nicht leicht zu verdauen.“
Damit ging er und ließ mich mit Night allein.
Er lag in einem schmalen Bett und wirkte genauso weiß wie die Bettwäsche. Aus seinem Mund führte ein großer Schlauch, der an einem der vielen Geräte angeschlossen war. An seiner Hand hatte er einen Zugang, durch den ihm mehrere Infusionen eingeflößt wurden. Die piepsenden und surrenden Apparate um ihn herum schienen alles an ihm zu überwachen und dafür zu sorgen, dass er am Leben blieb. Eine leuchtende Kugel schwebte über ihn, die helle Strahlen aussandte, die in die Maschinen führten. Offenbar steuerte dieses seltsame Ding alles.
Noch nie hatte ich jemanden in solch einem Zustand sehen müssen und es erschreckte mich zu tiefst. Die vielen Kabel und Schläuche, mit denen er verbunden war, ließen ihn beinahe unwirklich erscheinen. Ich hatte solche Angst um ihn, dass es mir förmlich die Luft abschnitt… Tränen strömten mir die Wangen hinab, während ich ihn mit weitaufgerissenen Augen voller Sorge betrachtete.
Ich hätte nicht sagen können, wie lange ich so verharrt hatte… Wenige Minuten? Eine halbe Stunde oder gar noch länger? Irgendwann trat ich jedoch neben ihn. Langsam ging ich Schritt für Schritt, bis ich an seinem Bett angekommen war. Es war wohl das einzige, das ich für ihn tun konnte. Ich wollte für ihn da sein und ihn spüren lassen, dass er nicht alleine war.
Vorsichtig nahm ich seine Hand in die meine. Sie war warm und weich, ganz genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Zärtlich strich ich über die schönen perfekten Finger.
„Night“, flüsterte ich leise.
Sanft legte ich meine Wange an seine Hand. „Es tut mir so leid. Das alles ist meine Schuld. Bitte, du musst wieder gesund werden.“
Tränen tropften auf das weiße Bett und hinterließen dunkle Flecken.
Am nächsten Morgen schlief er noch immer. Die Geräte piepsten in ihrer monotonen Art weiter. Die Lichtkugel schwebte über ihm und steuerte die Maschinen. Stunde um Stunde verging, ohne dass sich sein Zustand verbesserte.
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