Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Redbird zurück.
Er schlug den einzig möglichen Kurs ein. In großer Höhe sauste er mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf das House of Night zu, landete genau vor der lebensgroßen Statue der Nyx und fiel davor auf die Knie. Und dann tat er etwas, was er sich bislang versagt hatte. Kalona sah zu dem marmornen Antlitz seiner verlorenen Göttin auf.
Nein , berichtigte er sich in Gedanken. Nicht sie war verloren, sondern ich.
Die Gestalt der Göttin, die die Künstlerin in dem Stein eingefangen hatte, war in der Tat herrlich. Nackt stand sie vor ihm, eine Mondsichel in den erhobenen Händen. Ihre marmornen Augen blickten in die Ferne. Sie sah wunderschön und kriegerisch aus, strahlend und machtvoll. Kalona hätte alles dafür gegeben, wenn sie ihn auch nur ein einziges weiteres Mal berührt hätte.
»Warum?«, fragte er die Statue. »Warum hast du meinen Eid angenommen und mir die Gnade gewährt, wieder auf deinen Wegen zu wandeln, in ebenjenem Augenblick, als ich die Macht über die Finsternis bitter nötig gehabt hätte? Nun musste ich vor Neferet klein beigeben. Ich musste eine harmlose alte Frau gefangen und in Qualen zurücklassen. Ich habe versagt! Warum nimmst du mich in Gnaden auf, nur um mich versagen zu lassen?«
»Freier Wille«, ertönte gebieterisch Thanatos’ Stimme. »Was das bedeutet, wisst Ihr sogar besser als ich.«
Kalona sah weiter zu der Statue auf. »Ja. Es bedeutet, dass Nyx uns nicht daran hindert, Fehler zu machen, auch wenn es von uns und den Unsrigen einen hohen Preis fordert.«
»Als Unsterblicher habt Ihr es vielleicht noch nicht erkannt, aber zu leben heißt, beständig zu lernen.«
»Dann werde ich bis in alle Ewigkeit auf der Schulbank sitzen müssen«, sagte er bitter.
»Ihr könnt es auch als Chance betrachten, Euch beständig weiterzuentwickeln«, konterte sie.
»Um zu was zu werden?« Er stand auf und sah seine Hohepriesterin an. »Habt Ihr nicht gehört, was ich sagte? Ich habe versagt. Sylvia Redbird befindet sich noch immer in der Gewalt der Finsternis, über die Neferet gebietet.«
»Zuerst habt Ihr gefragt, zu was Ihr werden könntet. Meine Antwort ist: Entscheidet Euch. Ihr seid ohne Zweifel ein Krieger. Doch was für einer, das liegt an Euch. Dragon Lankford war ein Krieger, der auf dem besten Wege war, bitter und hart zu werden, ein eidbrüchiger Verräter. Nur weil ihm seine Liebe genommen worden war. Euch könnte es genauso ergehen.«
»Ihr wisst es.«
»Dass Ihr Nyx liebt? Ja«, gab Thanatos zu. »Ich weiß auch, dass sie unerreichbar für Euch ist, ob Ihr es Euch nun eingesteht oder nicht.«
Kalona presste die Lippen aufeinander. Er wollte seinen Zorn hinausschreien, Thanatos entgegenschleudern, dass er glaubte, von der Göttin berührt worden zu sein – dass sie vielleicht nicht unerreichbar für ihn war. Doch dann erinnerte er sich, wie die Tür zu ihrem Tempel unter seiner Hand zu Stein geworden war und ihm den Eintritt verwehrt hatte. Seine Gewissheit wankte.
»Ich gestehe es mir ein«, sagte er knapp.
»Gut. Zu Eurer zweiten Frage: Ja, ich habe Euch gehört. Ihr konntet Sylvia Redbird nicht retten, weil Ihr nicht mehr über die Finsternis gebietet.«
»Ja.«
Thanatos’ Blick wanderte über die Schnitte, mit denen sein Körper überzogen war. Sie verheilten bereits, doch noch klebte Blut an ihnen. »Ihr habt gegen die Finsternis gekämpft.«
»Ja.«
»Dann habt Ihr nicht versagt. Ihr habt Euren Eid gehalten.«
»Aber genau deshalb konnte ich meinen Auftrag nicht erfüllen. Ein bitteres Paradoxon.«
»In der Tat.«
»Was nun? Die alte Frau darf nicht in Neferets Gewalt bleiben. Neferet will sie als Pfand benutzen, um Zoey zu beherrschen. Selbst wenn dies gegen Zoeys Willen geschähe, hätte die Finsternis damit ein mächtiges Werkzeug gewonnen.«
Traurig schüttelte Thanatos den Kopf. »Krieger, alles, was Ihr sagt, ist wahr, und doch habt Ihr die Hauptsache nicht erfasst.«
»Die Hauptsache?«
»Die alte Frau darf nicht in Neferets Gewalt bleiben, weil das grausam wäre. Könntet Ihr das verstehen, so wäre Nyx Euch vielleicht nicht ganz so unerreichbar.«
» Ich verstehe es!«
In einer Bewegung drehten Thanatos und Kalona sich um. Es war Aurox, der, unbemerkt von ihnen, auf den Stufen zu Nyx’ Tempel gesessen und zugehört hatte.
»Warum ist er nicht unter Bewachung? Oder an einem sicheren Ort gefangen?«, fragte Kalona.
»Ich muss genauso wenig bewacht oder gefangen gehalten werden wie Ihr!«, schleuderte Aurox ihm entgegen.
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