Verloren: House of Night 10 (German Edition)
eine Matriarchin – kein Kind, erfüllte ihre Stimme meinen Geist. Ich sah auf, blinzelte ein paarmal und schnäuzte mich in das Küchentuch. Die Tunnelwände aus dichtgepresster Erde schienen zu leuchten. Und genau mir gegenüber begann ein Bild, sichtbar zu werden. Als blickte ich in einen tiefen dunklen Teich und etwas stiege aus den konkaven Tiefen auf. Es war eine Frauengestalt! Unter normalen Umständen hätte ich sie als fett bezeichnet. Sie war nackt und hatte enorme Brüste, weiche, breite Hüften und dicke Schenkel. Ihr Haar wogte um sie herum, ebenso voll und dunkel wie ihr Körper.
Sie war einfach nur wunderschön – jedes einzelne Kilo, jede Kurve ihres Leibes – und rückte meine Vorstellung von ›fett‹ plötzlich in ein ganz anderes Licht.
Dann öffnete sie die Augen. Es waren Amethyste – freundlich und warm und veilchenfarben.
»Nyx!«
Ja, u-we-tsi a-ge-hu-tsa, dies ist einer meiner Namen. Doch deine Vorfahren kannten mich als die Große Erdmutter.
»Also bist du auch Grandmas Göttin!«
Sie lächelte, und ich konnte sie kaum direkt ansehen, so schön war sie. Ja, in der Tat kenne ich Sylvia Redbird.
Ich rang die Hände. »Bitte hilf ihr. Ich glaube, sie ist gerade in wahnsinniger Gefahr!«
Deine Großmutter kennt mich gut. Und wie jedem meiner Kinder, das auf meinen Wegen wandelt, ist es ihr möglich, sich in die schützende Macht meiner Erde zu hüllen.
»Danke! Vielen Dank! Kannst du mir sagen, wo sie ist, und mir helfen, sie zu retten?«
Zu beidem hast du selbst die Möglichkeit, Zoey Redbird.
»Ich verstehe nicht! Bitte, um Grandmas willen, hilf mir!«, flehte ich sie an.
Wieder lächelte die Göttin, noch blendender als zuvor. Aber ich habe dir doch schon auf dein erstes Flehen geantwortet. Wenn du deine Großmutter und letzten Endes dein ganzes Volk retten willst, musst du erwachsen werden. Sei eine Frau, eine Hohepriesterin und Matriarchin, kein kleines Kind.
»Das will ich ja, aber ich weiß nicht, wie. Kannst du es mir nicht sagen?« Ich biss mir auf die Lippe, um nicht wieder loszuheulen.
Wie du zu der Frau werden kannst, die zu sein dir bestimmt ist, kann dich niemand lehren. Diesen Weg musst du selbst finden. Aber wisse eines: Ein Kind setzt sich hin, weint und zerfließt in Trübsal. Eine Hohepriesterin handelt. Was ziehst du vor, Zoey Redbird?
»Das Richtige! Ich will das Richtige tun. Aber ich brauche deine Hilfe!«
Die ist dir sicher – wie immer. Was ich verliehen habe, nehme ich niemals zurück. Sei gesegnet, meine kostbare u-we-tsi a-ge-hu-tsa …
Und die Göttin sank zurück in die Tunnelwand, und kurze Zeit glitzerte der Staub, wo sie gewesen war, noch fast wie das Amethystgefunkel ihrer Augen.
Ich saß da, starrte die Wand an und dachte an das, was die Göttin gesagt hatte. Und ich merkte, dass ich mich ziemlich beschämt fühlte. Was mir die Große Erdmutter gesagt hatte, war im Prinzip, dass ich aufhören sollte, herumzujammern. Ich wischte mir noch einmal das Gesicht ab. Ich trank die Cola aus.
Dann traf ich meine Entscheidung. Mit lauter Stimme.
»Okay, Zeit, erwachsen zu werden und mit dem Heulen aufzuhören. Ich muss irgendwas tun . Und das heißt, wenn ich wach bin, hat meine Streberclique auch wach zu sein – Sonne hin oder her.«
Ich stapfte durch den Tunnel zurück und tippte derweil Telefonnummern in mein Handy ein.
Stevie Rae nahm nach dem dritten Klingeln ab. Sie klang völlig fertig. »Was iss’n los, Z?«
»Zieh dich an, nimm dir eine grüne Kerze und komm rauf in den Keller«, sagte ich und legte auf. Als Nächstes nahm ich mir Aphrodite vor.
»Ich glaube, da sehnt sich jemand nach dem Tod«, begrüßte sie mich.
»Grandma nicht. Weck Darius auf, und kommt beide in den Keller.«
»Oh, darf ich Shaunee und unseren Hofdamien anrufen und sie auch aufwecken?«
»Definitiv. Sag ihnen, sie sollen ihre Kerzen mitbringen. Ach, und Shaunee soll auch Erins Kerze mitnehmen. Du kannst Erin als Wasser ersetzen.«
»Ich habe eine bessere Idee, aber das ist ja nichts Neues. Egal. Bis gleich.«
Als ich bei meinem Zimmer angekommen war, zögerte ich nicht. Hohepriesterinnen spielen keine ewigen Soll-ich-soll-ich-nicht-Spielchen. Sie handeln.
Ich rüttelte Stark an der Schulter. »Wach auf, Stark.«
Er blinzelte und schielte mich durch seinen süßen verwuschelten Haarschopf hindurch an. »Was ist los? Alles okay?«
»Es ist los, dass wir kein Auge mehr zumachen werden, bis wir wissen, wie wir Grandma retten.«
Er setzte sich auf
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