Verloren: House of Night 10 (German Edition)
und starrte ihn an.
»Ruft man mich?«, fragte er.
Sie blinzelte und rieb sich die Augen, als müsste sie ihren Blick klären. »Haben Sie hier mit einer Taschenlampe herumgespielt?«
»Ich besitze keine Taschenlampe. Ruft man mich?«
»So gut wie. Kramisha, diese Versagerin, hat beim Zusammenstellen der Ritualkerzen die Geistkerze vergessen. Ich muss eine aus dem Tempel holen. Auf dem Rückweg sollen Sie mit mir zum Scheiterhaufen kommen. Thanatos wird den Kreis beschwören, was Nettes über Dragon sagen und Sie dann einführen.«
Unter dem Blick des seltsamen, spitzzüngigen Menschenmädchens, das Nyx sich aus unerfindlichen Gründen zur Prophetin erkoren hatte, war Kalona erstaunlich unbehaglich zumute. Er grunzte eine unverständliche Antwort und drehte sich um, um die Seitentür des Tempels zu öffnen.
Sie öffnete sich nicht.
Kalona versuchte es noch einmal.
Er rüttelte mit all seiner übermenschlichen Stärke daran.
Sie wich kein Haarbreit.
Erst da fiel ihm auf, dass die hölzerne Tür nicht einmal mehr vorhanden war. Die Türklinke ragte aus dickem, solidem Stein heraus. Der Eingang war fort.
Plötzlich schob Aphrodite ihn beiseite. Sie packte die Klinke, zog daran, und der Stein wurde wieder zu einer hölzernen Tür, die sich mühelos für sie öffnete. Ehe sie die Schwelle zum Tempel der Göttin überschritt, sah sie ihn noch einmal an. »Sie sind so was von schräg.« Und sie warf ihr Haar zurück und schritt hinein.
Hinter ihr schloss sich die Tür. Kalona legte die Hand darauf. Unter seiner Berührung erzitterte sie und verwandelte sich von warmem Holz wieder in kühlen Stein.
Bittere Niedergeschlagenheit überkam ihn, und er trat zurück.
Nicht lange darauf kam Aphrodite durch die völlig normale Tür wieder heraus, eine dicke violette Stumpenkerze in der Hand. Im Vorbeigehen sagte sie zu ihm: »Also, kommen Sie mit. Thanatos hätte gern, dass Sie am Rand des Kreises bleiben und versuchen, möglichst unauffällig zu wirken. Wobei das ehrlich gesagt einfacher wäre, wenn Sie ’n bisschen mehr anhätten.«
Kalona folgte ihr und versuchte, die Leere in sich zu ignorieren. Wie Erebos so treffend bemerkt hatte – er war ein ungestümer Narr und ein Usurpator. Falls Nyx ihn beobachtet hatte, dann mit nichts als Verachtung für ihn. Alles verwehrte sie ihm – den Eintritt in die Anderwelt, in ihren Tempel, in ihr Herz …
Man hätte glauben sollen, die Jahrhunderte hätten den Schmerz gedämpft. Doch Kalona begann zu begreifen, dass vielmehr das Gegenteil der Fall war.
Aurox
Nyx, wenn du wirklich eine Göttin bist, die vergeben kann, bitte hilf mir … bitte …
Aurox floh nun doch nicht aus seinem Erdversteck. Stattdessen wiederholte er wieder und wieder diesen einen Satz, dieses eine Gebet. Vielleicht belohnte Nyx es ja, wenn man Fleiß zeigte. Ihn wenigstens konnte er der Göttin anbieten.
Während dieser stillen Litanei geschah es, dass die Magie um ihn zu wirbeln begann. Zuerst machte Aurox’ Herz einen Freudensprung. Nyx hat mich gehört! Doch schon einen Moment später wurde ihm klar, wie sehr er sich geirrt hatte. Die Kreaturen, die aus der kühlen, feuchten Luft um ihn herum Gestalt annahmen, konnten nicht im Dienst einer Göttin stehen, die zu vergeben verstand.
Aurox wich vor ihnen zurück. Ihr Gestank war fast unerträglich, ihre blicklosen Gesichter schrecklich anzusehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Furcht stieg in ihm auf, und die Bestie regte sich. Waren diese Dinger ihm als Strafe für die Taten gesandt worden, die er in Neferets Diensten begangen hatte? Aurox begann, die Bestie mit einem Teil seiner eigenen Furcht zu nähren – so ungern er sie erwachen ließ, er würde eher kämpfen, als sich der schwirrenden Flut der Bosheit zu ergeben, die ihn zu verschlingen drohte.
Doch er wurde nicht verschlungen. Langsam schwankten die Gestalten in einem Strudel aus Magie aufwärts. Je höher sie stiegen, desto schneller bewegten sie sich. Es schien, als seien sie gerufen worden und erwachten erst nach und nach aus langem Schlaf.
Aurox’ Furcht ebbte ab, und die Bestie in ihm zog sich zurück. Nicht ihn wollten diese Wesen. Sie schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Als der untere Zipfel des Strudels erreicht war – ein schwarzer übelriechender Dunst –, streckte er, ohne zu wissen, was ihn dazu trieb, die Hand aus und strich hindurch.
Da wurde seine Hand Teil des Dunstes, als wäre sie aus derselben Substanz gemacht. Ohne dass er den Strudel überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher