Verloren: House of Night 10 (German Edition)
gespürt hätte, schien dieser seine Hand aufgelöst zu haben. Mit weit aufgerissenen Augen wollte er sie wieder wegziehen, aber sie war nicht mehr da. Er hatte keine Hand mehr. Und dann erkannte er erschüttert, dass der Dunst sich weiter in ihn hineinzufressen begann. Hilflos sah Aurox zu, wie sein Unterarm verschwand, sein Oberarm, seine Schulter. Er versuchte, die Bestie zu wecken, sich der Macht zu bedienen, die in ihm schlummerte, doch der Dunst dämpfte seine Gefühle – betäubte ihn im gleichen Maße, wie er ihn unwiderstehlich anzog. Und als sein Kopf sich auflöste, wurde er ganz zu dem Dunst. Kein Gefühl existierte mehr außer einer unendlichen Sehnsucht – einem unerfüllten Wollen – einem unerbittlichen Drang. Wonach? Er hätte es nicht sagen können. Alles, was er wusste, war, dass Finsternis ihn umschloss und auf einer Woge der Verzweiflung davontrug.
Aber ich muss mehr sein als das! , dachte er panisch. Ich muss doch mehr sein als Dunst und Sehnsucht, Finsternis und die Bestie! Doch es schien, als sei da nicht mehr. Voller Verzweiflung erkannte er die Wahrheit. Er war all dies und zugleich nichts davon. Er war nichts … überhaupt nichts …
Irgendwo ertönte ein Würgen. Fast war es, als käme es von ihm. Als wäre sein Körper doch noch irgendwo und rebellierte gegen das, was geschah. Dann sah er sie.
Dort stand Zoey. Sie hielt den weißen Stein vor sich ausgestreckt. Genau wie in der Nacht zuvor, bei dem Ritual, bei dem er versucht hatte, sich anders zu entscheiden, das Richtige zu tun.
Er spürte, wie der Dunst sich verlagerte. Auch er wurde Zoeys gewahr.
Er würde auch sie absorbieren.
Nein! , schrie sein Geist tief in ihm auf. Nein!, echote sein Verstand den Ruf. Während er Zoey ansah, begann er, etwas anderes zu empfinden als Verzweiflung. Er spürte ihre Angst und ihre Kraft. Ihre Entschlossenheit und ihre Schwäche. Und ihm wurde etwas bewusst, was ihn überraschte. Zoey fühlte sich, was sie selbst und ihren Platz in der Welt anging, ebenso unsicher wie er. Sie sorgte sich darum, ob sie immer den Mut haben würde, das Richtige zu tun. Sie stellte ihre Entscheidungen in Frage und schämte sich, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Manchmal fühlte sich selbst Zoey Redbird, Liebling ihrer Göttin, wie eine Versagerin und war kurz davor, aufzugeben.
Genau wie er.
Da durchströmten ihn Mitgefühl und Verständnis, und mit ihnen überflutete ihn eine Woge weißglühender Macht. In einem grellen Blitz ließ der zerfallende Strudel ihn frei, und er fiel und befand sich im nächsten Moment wieder fest und sicher in seinem Körper. Am ganzen Leibe heftig zitternd rang er nach Luft.
Doch er ruhte sich nicht lange aus. Noch schwach und bebend machte er sich daran, durch das Labyrinth der knorrigen Wurzeln nach oben zu klettern. Langsam zog er sich aufwärts, dem Rand der Grube entgegen. Er brauchte sehr lange. Als er endlich oben war, blieb er zunächst ganz still und lauschte.
Da war nichts als der Wind.
Im Schutz des zersplitterten Stammes richtete er sich auf. Zoey war fort. Er sah sich um. Sofort wurde sein Blick von einem gewaltigen Berg aus Balken und Brettern angezogen, dessen Spitze eine in ein Tuch gehüllte Gestalt bildete. Obwohl das gesamte House of Night darum herumzustehen schien, war Aurox sofort klar, worum es sich handelte. Das ist Dragon Lankfords Scheiterhaufen, war sein erster Gedanke. Sein zweiter war: Ich habe ihn getötet. Der düstere Anblick zog ihn ebenso an wie die Verzweiflung, die er in dem magischen Dunst gespürt hatte.
Es war nicht schwer, sich an das Rund aus Vampyren und Jungvampyren heranzuschleichen. Unter ihnen standen zwar weithin sichtbar bewaffnete Söhne des Erebos, doch jedermanns Aufmerksamkeit war auf die Mitte des großen Kreises gerichtet, wo der Scheiterhaufen stand.
Verstohlen pirschte er sich im Schatten der großen alten Eichen heran, bis er nahe genug war, um zu verstehen, was Thanatos sagte. Dann holte er Schwung, sprang ab, packte einen tiefhängenden Ast und zog sich hoch. Er kletterte bis an den Rand der Krone, von wo er einen ungehinderten Blick auf das makabre Schauspiel hatte.
Thanatos hatte soeben den Kreis vervollständigt. Aurox sah, dass die vier äußeren Elementkerzen von Vampyrlehrern gehalten wurden. Er erwartete, in der Kreismitte am Scheiterhaufen Zoey zu sehen, doch zu seiner Überraschung war es Thanatos selbst, die in einer Hand die violette Geistkerze hielt. In der anderen trug sie eine große Fackel.
Wo
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