Verloren: House of Night 10 (German Edition)
spöttisch zu grinsen.
Aber das geschah nicht. Stattdessen fing Lenobia an, zu weinen. Also, so richtig herzzerreißend. Mit bebenden Schultern und Geschniefe, genau wie ich sonst. Travis hielt sie fest und sah auf sie hinunter, als wäre sie ein fleischgewordenes Wunder. »Wir sind uns schon mal begegnet. Deshalb kam es mir von Anfang an so vor, als wäre ich nach Hause gekommen.«
Sie nickte. Unter Tränen sagte sie zu mir: »Travis ist mein einziger menschlicher Gefährte, meine einzige Liebe, die nach zweihundertundvierundzwanzig Jahren zu mir zurückgekehrt ist. Wir fanden uns auf dem Atlantik, auf einem Schiff, das von Frankreich nach New Orleans fuhr. Damals hatte ich geschworen, niemals einen anderen zu lieben, und das habe ich gehalten.«
»Also hat der Seherstein mir die Wahrheit gezeigt?«
»Ja, Zoey. Absolut und vollkommen.« Und sie vergrub ihr Gesicht wieder an Travis’ Brust und weinte weiter – ließ den zweihundert Jahren des Wartens, des Schmerzes und der Einsamkeit freien Lauf, während er sie einfach nur festhielt.
Ich stand auf, nahm Starks Hand und zog ihn weg, damit die beiden allein sein konnten. An der Stalltür sagte er: »Das heißt aber trotzdem nicht, dass Aurox Heath ist, der zu dir zurückgekehrt ist. Das ist dir klar, oder?«
Da stürzte Stevie Rae auf uns zu und sprudelte hervor: »Du liebe güte, wo warst du? Ich muss dir unbedingt von Lenobia und Travis erzählen!«
»Nicht mehr nötig«, sagte Stark. »Wo sind Aphrodite und Darius?«
»Schon am Nyxtempel beim Scheiterhaufen. Wir müssen da jetzt auch so schnell wie möglich hin.«
»Dann suche ich Erin und Shaunee und Damien. Beeilen wir uns.«
Stevie Rae sah ihm verwirrt hinterher. »Was ist denn mit dem los?«
Ich sagte: »Kann sein, dass Heath wirklich in Aurox drin ist.«
»Jessesmaria.«
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.
Zwölf
Kalona
Auf der Seite des Lichts zu stehen war nicht so spannend, wie er es in Erinnerung hatte. Um ehrlich zu sein, langweilte Kalona sich. Sicher, er konnte verstehen, warum Thanatos ihn gebeten hatte, während Dragons Trauerfeier im Hintergrund zu bleiben und keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Erst danach würde sie der Schule verkünden, dass er ihr neuer Krieger war und Dragon Lankfords Posten als Schwertmeister und Anführer der Söhne des Erebos am House of Night von Tulsa übernehmen würde. Bis dahin wäre seine Anwesenheit für die anderen Krieger irritierend, ja womöglich beleidigend.
Das Problem war, dass es Kalona nie etwas ausgemacht hatte, beleidigend zu sein. Er war ein mächtiger Unsterblicher. Warum sollte er sich Gedanken um die belanglosen Gefühle anderer machen?
Weil mich gerade diejenigen, die ich am belanglosesten fand, immer wieder überrascht haben: Heath, Stark, Dragon, Aurox, Rephaim. Beim letzten Namen auf seiner inneren Liste durchzuckte ihn Überraschung. Ja, einst war ihm Rephaim belanglos erschienen. Aber das war ein Irrtum. Kalona gestand sich inzwischen ein, dass er seinen Sohn liebte – und brauchte.
Worin hatte er sich noch geirrt?
Vielleicht in vielen Dingen.
Der Gedanke war deprimierend.
Ungeduldig wanderte er auf der dunkelsten, schattigsten Seite des Nyxtempels hin und her. Hier war er vom Scheiterhaufen aus in Hörweite, so dass er rasch erscheinen konnte, wenn Thanatos ihn rief, aber außer Sicht.
Es verdross ihn, dass er sich herumkommandieren lassen musste. Das war ihm schon immer zuwider gewesen.
Und dann war da diese Jungvampyrin mit der Affinität zum Feuer – Shaunee. Sie schien die Gabe zu haben, ihn auf Dinge zu stoßen, über die er sich gewöhnlich niemals Gedanken gemacht hätte.
Nun schon zum zweiten Mal. Beim ersten Mal hatte er vorgehabt, sie zu manipulieren, ihr Informationen über Rephaim und die Rote zu entlocken. Das Ergebnis war gewesen, dass sie ihm etwas lächerlich Banales, Gewöhnliches geschenkt hatte: ein Handy. Aber dieses banale Geschenk hatte seinem Sohn das Leben gerettet.
Und jetzt fing er ihretwegen an, über all die Äonen nachzudenken, die er fern von Nyx verbracht hatte.
»Nein!«, sprach er laut. Der kleine Hain aus Judasbäumen, der westlich des Nyxtempels stand, wogte, als fahre eine Sturmbö hindurch. Kalona zwang sich zur Ruhe. »Nein«, wiederholte er, diesmal, ohne dass eine anderweltliche Macht in seiner Stimme mitschwang. »Ich werde nicht über diese Zeit nachdenken. Ich werde überhaupt nicht an sie denken.«
Da wirbelte Gelächter um ihn, und die Judasbäume
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