Verloren: House of Night 10 (German Edition)
erglänzten hell, trieben aus und barsten in volle Blüte, als strahlte mit einem Mal die Sommersonne auf sie herab. Kalona ballte die Fäuste und sah nach oben.
Dort hockte er, auf der steinernen Dachtraufe des Tempels. Sowenig Licht die Rückseite des Gebäudes erreichte, wo Thanatos ihn aus eben diesem Grund zu warten geheißen hatte, Erebos strahlte und glänzte aus sich heraus.
Erebos. Sein Bruder, Nyx’ unsterblicher Gefährte. Das Wesen, das ihm im gesamten Universum am meisten glich – und das er noch mehr hasste als sich selbst. Hier! In der Welt der Sterblichen! Nach all den Jahrhunderten! Warum? Kalona verbarg seinen Schrecken hinter Verächtlichkeit. »Du bist kleiner, als ich dich in Erinnerung habe.«
Erebos lächelte. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Bruder.«
»Wie üblich legst du mir Worte in den Mund.«
»Verzeih. Es wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Nicht, wo deine eigenen Worte doch so interessant waren: Ich werde überhaupt nicht an sie denken. « Erebos war nicht nur beinahe Kalonas Spiegelbild, es gelang ihm auch, den Tonfall seines Bruders perfekt nachzuahmen.
Eilig sammelte Kalona seine Gedanken und log: »Ich sprach von Neferet.« Es mochte Äonen her sein, aber einst war er sehr gut darin gewesen, seinen Bruder anzulügen.
Offensichtlich beherrschte er diesen Trick noch immer. »Daran zweifle ich nicht, Bruder.« Erebos lehnte sich vor, spreizte seine goldenen Schwingen und schwebte anmutig vor Kalona zu Boden. »Siehst du, genau das ist der Grund für meinen kleinen Besuch.«
»Du begibst dich in die irdische Sphäre, weil ich Neferets Liebhaber war?« Kalona verschränkte die Arme vor der breiten Brust und erwiderte den Bernsteinblick seines Bruders.
»Nein. Weil du ein Lügner und Dieb bist. Neferet den letzten Funken Güte zu rauben, der noch in ihr war, ist nur eines deiner unzähligen Verbrechen.« Auch Erebos verschränkte die Arme.
Kalona lachte. »Du hast mir nicht gut genug nachspioniert, wenn du glaubst, ihr etwas zu rauben sei Teil dessen gewesen, was Neferet und ich teilten. Sie war mehr als willig, sich mir mit allem, was sie hatte, hinzugeben.«
»Ich sprach nicht von ihrem Leib!« Erebos hatte die Stimme erhoben. Jenseits des Tempels hörte Kalona die fragenden Rufe von Vampyren, die wissen wollten, was dort hinten vor sich ging.
»Wie stets, Bruder, bereitet dein Erscheinen mir nur Unannehmlichkeiten. Ich sollte eigentlich ungesehen in den Schatten warten, bis man mich ruft. Doch wenn ich es recht bedenke, wird es amüsant sein, zu beobachten, wie du mit der Entdeckung durch die Sterblichen umgehen wirst. Nur noch rasch ein guter Rat: Selbst Vampyre tendieren dazu, überzureagieren, wenn sie sich mit einem Gott konfrontiert sehen.«
Erebos zögerte keinen Moment. Er hob beide Hände und befahl: »Verhülle uns!«
Kalona spürte einen Windstoß und eine Leichtigkeit, die ihm derart vertraut waren – so bittersüß vertraut –, dass er nur zwei Reaktionen in sich fand: Zorn oder Verzweiflung. Nun, seine Verzweiflung würde er Erebos nicht offenbaren.
»Du widersetzt dich Nyx? Es war ihr Befehl, dass ich die Anderwelt niemals wieder betreten dürfe. Wie kannst du es wagen, mich hierherzubringen!« Kalona breitete die nachtfarbenen Schwingen weit aus, bereit, sich auf seinen Bruder zu stürzen.
»Immer der ungestüme Narr, Bruder. Ich würde doch niemals gegen die Befehle meiner Gefährtin verstoßen. Ich habe dich nicht in die Anderwelt gebracht. Ich habe lediglich ein Stückchen der Anderwelt zu dir gebracht, um uns, wenn auch nur für einen Moment, vor den Blicken der Sterblichen abzuschirmen.« Wieder lächelte Erebos, und diesmal dämpfte er seine strahlende Perfektion nicht. Sonnenlicht schien seinem Körper zu entströmen. Golden glitzerte das Gefieder seiner Schwingen. Seine Haut war glatt und licht, wie aus den Strahlen der Sonne gemacht.
Und so war es auch, dachte Kalona angewidert. Er entstand, als der Himmel die Sonne küsste. Genau wie ich entstand, als der Himmel den Mond küsste. Wie die meisten Unsterblichen war auch der Himmel ein launischer Mistkerl, der sich stets nahm, was ihm gefiel, ohne sich Gedanken um die Nachkommen zu machen, die er zeugte.
»Na, wie fühlt es sich an? Besser als vor kurzer Zeit, als du dich in die Anderwelt schlichst, um diese Jungvamyprin Zoey Redbird zu jagen. Damals warst du nur ein Geist und konntest den Zauber, der Nyx’ Reich zu eigen ist, nicht auf deiner Haut spüren. Dabei gefiel dir doch
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